Der Charme der genuinen Selbsterneuerung

London
London(c) EPA (KERIM OKTEN)
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Für Touristen ist London günstig wie schon lange nicht. Jetzt ist die richtige Zeit, London zu besuchen.

Die Erschwernisse und Einschränkungen der Olympischen Spiele sind vergessen. Irgendwann in den nächsten Wochen wird sich endlich der Frühling gegen den grimmigen Winterwind, der immer noch über die Stadt fegt, durchsetzen. Und schließlich darf sich der Besucher der Stadt daran erfreuen, dass die unergründliche Wirtschaftspolitik der Regierung das Pfund auf eine dramatische Talfahrt geschickt hat. Jetzt ist die richtige Zeit, London zu besuchen.

Für Touristen ist London damit günstig wie schon lange nicht. Nicht, dass die britische Hauptstadt plötzlich ein Schnäppchenparadies geworden wäre. Aber selten war die Gelegenheit für Besucher so groß, nicht nur trendig, sondern auch günstig einzukaufen. Wer das vorhat, sollte aber die ausgetretenen Pfade verlassen. Die legendäre Oxford Street ist zwischen Tottenham Court Road und Oxford Circus eigentlich nur mehr schäbig, und von Oxford Circus bis Marble Arch von großen Marken und Kaufhäusern dominiert. Dafür muss man aber nicht London anpeilen (Selfridges ist, zugegeben, eine Ausnahme), selbst Publikumsmagnet Primark hat es mittlerweile (fast) bis nach Wien geschafft.

Mindestens so legendär wie die Oxford Street ist der Camden Market im Norden der Stadt. Hierher sollte man vor allem dann kommen, wenn man Gusto auf sehr billige, sehr große und sehr schwer im Magen liegende Straßengerichte obskurer asiatischer Provenienz hat, wenn man sich gern in mit Cannabisaromen geschwängerter Luft durch Menschenmassen drängen lässt und wenn man Dinge sucht, die sich in allererster Linie durch ihre Britishness auszeichnen. Das reicht vom unvermeidlichen London-T-Shirt („Mind the Gap“) bis zum Bierdeckel mit Union Jack.

Wer auf die neueste Mode Wert legt, ist anderswo besser beraten, etwa rund um den Spitalfields Market am Ostrand der City beim Bahnhof Liverpool Street. Während auch hier der Markt den unvermeidlichen Weg der gnadenlosen Kommerzialisierung geht, sind in den vielen kleinen Straßen rund um die benachbarte Brick Lane noch echte Entdeckungen zu machen. Neben gefühlten drei Millionen Touristen wälzen sich hier jeden Sonntagnachmittag noch einmal so viele Einheimische, was ein Vertrauensbeweis ist.

Genuine Selbsterneuerung

Weil die Gegend um Brick Lane auch ein Magnet für viele Künstler, etwa den berühmten Banksy, geworden ist, gibt es hier mittlerweile auch veritable Galerie- und Studioführungen. Viele Kreative aus dem East End sind heute im Mainstream angekommen: Als der britische Premier David Cameron 2010 US-Präsident Barack Obama seinen ersten offiziellen Besuch abstattete, brachte er ihm ein Gemälde des East-End-Künstlers Ben Eine mit. „Das war der seltsamste Tag in meinem Leben“, schrieb Eine damals, gleichzeitig geehrt und peinlich berührt.

Als sich London für die Olympischen Spiele 2012 bewarb, stand die Regenerierung des Ostens der Stadt im Vordergrund. Die Gegend um Spitalfields Market und Brick Lane ist da erst das Portal – die Spiele fanden im nur fünf Meilen entfernten Stadtteil Stratford statt. Von den neun Milliarden Pfund, die Großbritannien in die Spiele investierte, blieb nur ein Bruchteil für das eigentliche East End übrig. Für viel mehr als ein paar Potemkinsche Maßnahmen wie neue Citybike-Stationen oder einige (wenige!) Straßenschilder für Ortsunkundige reichte es nicht. Zum Glück. Denn statt künstlicher und übergestülpter Sanierung lebt das East End weiter vom Charme seiner genuinen Selbsterneuerung. In dieser wirren Mischung spürt man London leben.

Nur ein paar Schritte entfernt schießen in der City derweil die Wolkenkratzer aus dem Boden, als hätte es die globale Finanzkrise nie gegeben. Das ist sozusagen ein architektonischer Dopplereffekt, denn was heute ungeachtet der anhaltenden Wirtschaftskrise rasend schnell Gestalt annimmt, wurde auf dem Höhepunkt der längst geplatzten Immobilienblase zu Beginn des Jahrtausends erdacht, geplant und (nicht immer vollständig) finanziert. Sei's drum, dass es das Emirat von Katar war, das die Fertigstellung ermöglicht hat, mag sich der Besucher des 1,5 Milliarden Pfund teuren „Shard“ denken, des aktuell höchsten Gebäudes Westeuropas mit 310 Metern, wenn er auf der Aussichtsplattform im 72. Stock steht und einen Ausblick genießt, der an klaren Tagen bis zum Meer reicht. Trotz eines heftigen Eintrittspreises von 25 Pfund ist der Andrang auf die jüngste Londoner Attraktion massiv. Online-Vorausbuchungen sind obligatorisch, wer ohne Vorbestellung auftaucht, zahlt für den Eintritt 100 Pfund.

Der „Shard“ (Scherben) ist aber immerhin eines der wenigen Hochhäuser der Stadt, die sich der Allgemeinheit öffnen. Andere imposante Gebäude wie der „Gherkin“ („Gurkerl“) dürfen Normalsterbliche nur von außen bewundern. Das macht aber (fast) nichts, denn immer noch frei zugänglich sind die führenden Museen (ausgenommen Sonderausstellungen). Und hier herrscht wie gewohnt eine „Embarrassment of Riches“: Der Besucher hat derzeit die Wahl zwischen Roy Lichtenstein in der Tate Modern, Man Ray in der National Portrait Gallery, Marcel Duchamps und Zeitgenossen im Barbican, David Bowie (ab Ende März) im Victoria & Albert-Museum oder „Becoming Picasso“ in der Courtauld Gallery.

Wer nur einen Teil davon überstanden hat, sollte sich mit gutem Essen belohnen. Nie war das leichter, denn London ist heute, wie der französische (!) Meisterkoch Alain Ducasse durchaus neidvoll sagte, „die kulinarische Hauptstadt der Welt“. Wem der bärbeißige Gordon Ramsey unsympathisch ist und der omnipräsente Jamie Oliver auf die Nerven geht, dem sei ein Besuch bei Yotam Ottolenghi empfohlen. Hier wie bei den Ausstellungen gilt: unbedingt vorbestellen. Es zahlt sich aus.

Smart City – Literatur, Kunst, Essen

Das Buch: „Das Kapital“, was sonst liest man in London, einen Gesellschaftsroman, in dem John Lanchester das Londoner Leben in der Finanzkrise schildert. Klett-Cotta, 24,95€.

Tipp: So viel wie möglich vorausbuchen, etwa die Fahrkarten für den berüchtigten öffentlichen Verkehr. Die Buchung per Internet funktioniert und ist billiger: http://visitorshop.tfl.gov.uk/

Tickets für den „Shard”:
www.theviewfromtheshard.com/

London-Blogs: www.thelondoner.me
http://aglimpseoflondon.blogspot.co.at/

Links: www.spitalfields.co.uk/

www.visitbricklane.org/

Ausstellungen: Roy Lichtenstein,
Tate Modern, bis 27. Mai, www.tate.org.uk
Man Ray, National Portrait Gallery, bis 27. Mai, www.npg.org.uk//whatson/man-ray-portraits/exhibition.php
David Bowie: V/A, 23. März bis 11. August, www.vam.ac.uk/content/exhibitions/david-bowie-is/
Picasso: Courtauld, bis 26. Mai, www.courtauld.ac.uk/gallery/exhibitions/2013/becoming-picasso/

Essen: Ottolenghi
www.ottolenghi.co.uk/
www.london-insider.co.uk/category/dining-out-reviews-in-london-restaurants/

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.03.2013)

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