Weisband: "Hirn und Politik ganz süß, aber . . ."

Weisband Hirn Politik ganz
Weisband Hirn Politik ganz(c) dapd (Axel Schmidt)
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Sie ist, auch als einfaches Mitglied, mit Leib und Seele Piratin. Ein Gespräch auf der Leipziger Buchmesse mit der ehemaligen Geschäftsführerin der deutschen Piratenpartei, Marina Weisband.

Sie wurden 1987 in Kiew geboren und sind 1993 ausgewandert. Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Heimat?

Marina Weisband: Ja, sehr viele. Ich erinnere mich an alles, seit ich drei geworden bin. Ich war zeitweilig auf einem Bauernhof. Da weiß ich noch, wie ich fast von einer Kuh totgetrampelt worden wäre. Ich erinnere mich aber nur noch an einzelne Szenen, vor allem an die Angst vor der Kuh. Sonst war ich ein Stadtkind, das viel in der Wohnung war, auch weil ich nicht so gesund war.


Ihre Kindheit fällt ja in die Zeit der Wende.

Genau. Ich habe die Sowjetunion noch sehr stark erlebt. Ich erinnere mich da vor allem an leere Läden, in denen man fast nichts bekam. Ich erinnere mich, dass meine Mutter stundenlang an der Milchküche angestanden hat, während ich auf meinen Bruder aufpassen musste – und dass ich viel allein mit ihm zu Hause saß.


Fahren Sie noch in die Ukraine, besuchen Sie Verwandte?


Jedes Jahr. Die Ukraine ist ein anderes Land geworden. Das ist nicht mehr meine Heimat. Ich spreche auch die Sprache kaum noch. Ich spreche fließend Russisch, aber inzwischen ist dort Ukrainisch die Amtssprache. Aber in Kiew wird auf der Straße noch Russisch gesprochen.


Vor Kurzem haben wir der Schlacht um Stalingrad gedacht. Wurde dieses Ereignis im Elternhaus, in der Schule angesprochen?

Mein Großvater war ja Rotarmist und marschierte in Deutschland ein. Er kommandierte dann über Magdeburg. Ich war damals im Zweiten-Weltkriegs-Museum, das für mich als Kind sehr eindrucksvoll war. Man hat mit einem gewissen Patriotismus an den Kampf gegen den Faschismus gedacht.


Gerade durch die Ukraine haben die Deutschen eine Blutspur gezogen, wie in dem Band „Bloodlands“ nachzulesen ist.

Mein Opa sprach aber nie vom Krieg gegen die Deutschen, sondern immer vom Krieg gegen den Faschismus. Insofern empfanden wir die Deutschen auch nicht als die Täter. In den 1990ern, als alle ausgewandert sind, gab es im Grunde drei Ziele: Israel, die USA und Deutschland. Mein Großvater war eben schon in Deutschland gewesen und hat dann beschlossen, wieder dorthin auszuwandern. Nach Israel wollte er nicht, die USA waren ihm zu weit weg, also Deutschland.


Sie stammen aus einer jüdischen Familie: War der Holocaust ein Thema?

Sehr lange nicht. Auch jetzt weiß ich noch nicht, was zu der Zeit mit meiner Familie passiert ist. Ich weiß, meine Familie war in der Deportation, aber Genaueres weiß ich nicht.


Sie schreiben, dass Sie sich eine Zeit lang mit Religionen beschäftigt haben. Sind alle Religionen jetzt gleichwertig für Sie oder hat das Judentum einen besonderen Stellenwert?

Ich betrachte das Judentum schon als meine Religion. Ich bin keine religiöse, aber eine gläubige Person. Das heißt, ich halte mich nicht an alle Gebote und Riten, aber ich gehe in die Synagoge, früher regelmäßiger, jetzt eher sporadisch. Aber ich gehe ganz gern hin: Es ist ein guter Ort, um durchzuatmen.


Sie waren als Kind sehr krank. Sie wurden einmal als Tschernobyl-Kind bezeichnet, weil Sie ein gutes Jahr nach dem Reaktorunfall auf die Welt gekommen sind.


Für meine Familie war Tschernobyl ein großes Thema. Für mich als Kind weniger. Ich habe mich mehr mit Dingen beschäftigt, mit denen sich Kinder eben so beschäftigen, Gedichte erzählt bekommen, Lesen, Spielen.


In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie mit 13 Ihren ersten Internetzugang hatten. War das für Sie so eine Art Initiationserlebnis?

Also mit 13 hatte ich meinen ersten eigenen Computer. Mit Computern hatte ich davor schon zu tun. Mein Vater ist ja Informatiker.


Wo sehen Sie den Unterschied zwischen persönlichen Begegnungen und sozialen Netzwerken?

Es gibt viele Unterschiede. Man muss einfach das richtige Werkzeug für die richtige Aufgabe benutzen. Natürlich unterscheidet sich Kommunikation über das Internet mit jener zwischen Menschen, genauso wie sich ein Telefonat unterscheidet, oder wenn ich im Radio auftrete oder einen Brief schreibe. Es hat einen Vorteil, wenn ich jemandem ins Gesicht sehen kann, wenn ich die Mimik sehe und die Reaktionen. Aber wir bemühen schon seit Längerem auch andere Medien. Ich habe jetzt ein Buch geschrieben, in dem niemand meine Stimme hört und mich sieht. Manchmal schreibe ich E-Mails oder ich telefoniere mit jemandem. Das Internet ist eine ebensolche Kommunikationsbrücke. Wie wir sie nutzen und wofür, hängt von uns ab.


Die Piraten setzen ganz auf Technik. Halten Sie alle Technik für beherrschbar?

Man kann nicht sagen, ob Technik gut oder böse ist. Unter Technik fassen wir verschiedene Werkzeuge zusammen. Es gibt Werkzeuge, die funktionieren grundsätzlich nicht, und andere, die kann man für Gutes und für Schlechtes verwenden. Es gibt Technik, die uns helfen kann, z. B. wenn wir sagen, das Internet vernetzt uns und darin können wir Werkzeuge bauen, die uns auf so sinnvolle Art vernetzen, dass wir Politik machen können. Ich kann Politik ja nicht per E-Mail oder per Twitter oder Facebook machen.


Das tun Sie doch schon die ganze Zeit.

Nein, nein. Wir quatschen über Twitter und Facebook. Das darf man nicht mit der von der Public Software Group e.V. entwickelten Software Liquid Feedback verwechseln. Die wurde eigens mit dem Ziel geschrieben, Politik zu machen, sodass alles, was man darin tut, konstruktiv sein muss. Man kann also nicht nur sagen: Ich finde deine Initiative scheiße, sondern man muss sie verbessern oder eine Gegeninitiative starten. Dabei kommen dann Beschlüsse heraus, die abgestimmt wurden. Dann ist der Diskussionsprozess vorbei. Das haben wir bei Twitter und bei Facebook nicht.


Sie haben mit den Piraten einen steilen Aufstieg in einem Nichtheimatland geschafft. War das für eine Migrantin schwerer als für hier Geborene?


Weder noch. Es war Zufall. Diese Karriere war nicht geplant. Ich habe zu keinem Zeitpunkt eine Entscheidung getroffen, bei der ich dachte, jetzt werde ich berühmt. Das kam so. Dieses Land hat sich für mich jedenfalls als sehr durchlässig erwiesen.


Aber es gibt auch andere Migranten, etwa Türken, die hier ermordet wurden.

Unser Asylsystem ist absolut reformbedürftig. Wir lassen Asylanten zum Teil zehn Jahre in Containern schmoren, und sie dürfen nicht einmal die Sprache lernen, geschweige denn arbeiten, weil sie jederzeit abgeschoben werden können. Und wir haben immer noch sehr viel schlechtere Aufstiegschancen für Migranten. Der Bildungsabschluss hängt immer noch vom Bildungsabschluss der Eltern ab. Das versuche ich durch mehr Bürgerbeteiligung aufzubrechen.


Sie haben längst die Staatsbürgerschaft.

Ich habe auch die ukrainische Staatsbürgerschaft. Ich sehe mich aber als Weltbürgerin oder als Mensch. Ich habe es nicht so sehr mit Nationalstaaten.


Sie wurden vom „Playboy“ zur „sexiest Politikerin“ Deutschlands gewählt. Empfinden Sie das als Sexismus?

Ja, das empfinde ich genau so. Ich gehe nicht in die Politik, damit mein Aussehen bewertet wird. Zwei Jahre lang habe ich versucht, den Leuten neue Ideen aufzuzeigen, und dann kommt der „Playboy“ und sagt: Das ist ja alles ganz nett, was du machst, Gehirn und Politik sind ja ganz süß, aber verlagere dich doch bitte darauf, was du als Frau gut kannst – nämlich gut aussehen. Das war ein Schlag ins Gesicht. Wenn ein total neues Konzept wie Liquid Democracy entsteht, springt keine Presse darauf an, aber wenn irgendein blödes Männermagazin mich hübsch findet, ist das plötzlich wichtig. Das ist doch doof.


Warum schreibt jemand, der so netzaffin ist wie Sie, ein klassisches, gedrucktes Buch?

Wie gesagt: das richtige Werkzeug für die richtige Aufgabe. Netzaffin bin ich, weil ich gern viel mit Menschen in Kommunikation bin. Wenn ich einmal einen großen, langen, komplexen Gedanken habe, also ein Sammelsurium an Ideen, die nicht unabhängig voneinander sind, sondern alle einem roten Faden folgen, brauche ich Raum, um die zu kommunizieren. So ein Raum ist ein Buch, das heißt, ich bin ja nicht gegen Bücher; ich bin mit einem Buchhändler zusammen, habe eine große Bibliothek und lese sehr gern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2013)

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