Interview

„Man muss die Lebensarbeitszeit langsam steigern“

Der Bund müsse die Gemeinden in Bezug auf die Finanzen strenger kontrollieren, sagt der neue IHS-Chef Holger Bonin.
Der Bund müsse die Gemeinden in Bezug auf die Finanzen strenger kontrollieren, sagt der neue IHS-Chef Holger Bonin. Clemens Fabry
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Es „fällt auf“, dass in Österreich die Diskussion über eine Pensionsreform gar nicht geführt werde, sagt der neue IHS-Direktor Holger Bonin. Der Erhöhung des Pensionsantrittsalters könne man nicht ausweichen.

Die Presse: Viel wird über den Mangel an Arbeitskräften gesprochen. Gleichzeitig liegt das Pensionsantrittsalter in Österreich trotz gestiegener Lebenserwartung sogar leicht unter dem Niveau von 1970. Zudem sind bei uns die gesunden Lebensjahre geringer als in anderen vergleichbaren Ländern. Warum ist das so?

Holger Bonin: Tatsächlich ist es ein Problem, dass immer mehr Menschen inaktiv sind. Normalerweise lautet die Regel, dass jemand zwei Drittel seines Erwachsenenlebens im Erwerbsleben und ein Drittel im Ruhestand ist. Das besagt der Generationenvertrag: Die Aktiven zahlen für jene im Rentenalter. Wenn die Menschen länger leben, müsste sich das auch auf das Rentenantrittsalter auswirken. Für jedes zusätzlich gewonnene Lebensjahr müsste man also acht Monate länger arbeiten. 

Die Rechnung ist bekannt, aber wohl zu unpopulär, um sie politisch umzusetzen.

Ja, vor allem, weil es sich um sehr langfristige Reformen handelt. Man muss die Lebensarbeitszeit langsam steigern, damit sich alle darauf einstellen können. Man macht also etwas, was dann im Jahr 2040 eintritt.

In der Umweltpolitik macht man doch auch etwas, was dann 2040 oder 2050 kommt.

In Deutschland hat man ja vor 20 Jahren tatsächlich eine Pensionsreform gemacht und das Rentenalter von 65 auf 67 Jahre ange­hoben. Aber die Reform wirkt über eine ­ganze Generation hinweg. Erst 2033 entfaltet sie ihre volle Wirkungskraft. Ich müsste in Deutschland mit 67 in Rente gehen. Ich weiß das aber schon seit 20 Jahren. Ich kann mich darauf einstellen. Mittlerweile muss man sich bereits die Frage stellen, ob das noch reicht oder ob man nicht noch länger arbeiten muss. Denn der Trend zur steigenden Lebenserwartung nimmt noch nicht ab.

Aber die allgemeine Lebenserwartung ist ja ein Durchschnittswert und hängt stark von Bildung und sozialer Schicht ab.

Ja, und auf der anderen Seite sind viele medizinische Fortschritte noch gar nicht eingepreist. Die tatsächliche Lebenserwartung ist also höher als die statistisch errechnete. Dennoch ist in Österreich auffällig, dass die Zahl der gesunden Lebensjahre vergleichsweise niedrig ist. Ich weiß nicht, woran das liegt. Als ich nach Österreich gekommen bin, hatte ich den Eindruck, dass hier noch verhältnismäßig viel geraucht wird. Das wäre ein Aspekt, der die gesunden Lebensjahre reduziert. Und natürlich leben Universitätsprofessoren im Schnitt länger als einfache Arbeiter. Deshalb ist eine Pensionsreform so schwierig, weil man nicht alle über einen Kamm scheren kann.

Das heißt also, Universitätsprofessoren sollten länger arbeiten müssen als Fließbandarbeiter?

In der Regel belastet man mit einer Pensionserhöhung die niedrig Qualifizierten stärker. Ich erinnere etwa daran, dass es in Deutschland für Bergleute eine eigene Rentenversicherung gab. Die konnten mit 57 in Pension gehen. Warum? Die Lebenserwartung der Bergleute war so kurz. Das ist ein wichtiges Phänomen. Man benachteiligt also mit einer allgemeinen Formel bestimmte Gruppen. Gruppen, die ohnehin schon benachteiligt sind. Besser Gebildete werden in der Regel bevorzugt. Wenn man also das Pensionsalter erhöht, muss man auch über den sozialen Ausgleich nachdenken.

Wie kommt das bei Politikern in Österreich an, wenn Sie ihnen diese Art von Pensionsreform empfehlen?

Darüber habe ich ehrlich gestanden mit Politikern noch nicht gesprochen, weil hier in Österreich eine Diskussion über Pensionsreformen gar nicht geführt wird. Das fällt auf. Auch in den einzelnen Partei- und Regierungsprogrammen steht zu Pensionen nicht viel drinnen. Also der erste Schritt wäre, überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Die Erhöhung des Pensionsantrittsalters ist ein Thema, dem man nicht ausweichen kann. Der demografische Wandel steht in den nächsten zehn Jahren massiv bevor, wir merken es ja schon auf dem Arbeitsmarkt. Die starken Jahrgänge der Babyboomer gehen in Rente. Dieser Finanzierungsbedarf und dass die Haushaltsspielräume kleiner werden dadurch, das wird interessanterweise nicht diskutiert.

Aber man weicht diesem Thema in Österreich doch seit vielen Jahren aus.

Mein Eindruck ist, dass man in Österreich darauf setzt, dass das Pensionssystem aus dem Staatshaushalt querfinanziert wird. Aber das funktioniert auf Dauer nicht, denn eigentlich ist der gesamte Staatshaushalt ein Generationenvertrag. Wenn es weniger Beschäftigte gibt, werden auch die Steuereinnahmen nicht mehr so sprudeln. Mir ist aber natürlich klar, dass Politiker mit diesem Thema keine Wahlen gewinnen.

Ihr Vorgänger als Chef des Instituts für Höhere Studien, Martin Kocher, hat immer eine Pensionsreform gefordert – bis er Minister wurde.

Das Thema ist schwierig. Was immer man tut, es läuft auf eine Schlechterstellung der Bürgerinnen und Bürger hinaus. Demografische Alterung belastet die öffentlichen Finanzen, insbesondere die Sozialversicherung. Man kann dem nicht entkommen. Man könnte höhere Pensionsbeiträge einführen, dann belastet man die Erwerbstätigen noch mehr. Man könnte die Pensionen kürzen, dann belastet man die jetzigen Rentner. Oder man hebt eben das Rentenalter an. Und natürlich bedeutet auch das unter dem Strich eine Kürzung der Pensionen. Aber es muss so sein. Viele Politiker ziehen deshalb den vierten Weg vor: Sie verschieben das Problem in die Zukunft.

Das heißt mit anderen Worten, dass sich der Staat immer mehr verschulden muss, um die Pensionen zu finanzieren.

Ja, und die künftigen Generationen werden das dann bezahlen müssen. In der Vergangenheit war diese Lösung ja auch sehr attraktiv, weil man kaum Zinsen für die Schulden zahlen musste, die der Staat aufnahm. Aber es gibt mittlerweile wieder Zinsen, und somit wird Schuldenpolitik auch wieder teuer.

Sie haben sich ja sichtlich schon einen guten Überblick über den Ist-Zustand in ­Österreich verschafft. Was wäre Ihrer Meinung nach die wichtigste Reform, die man angehen sollte?

Die Pensionsreform ist natürlich ein sehr wichtiges Thema. Ein zweites Feld ist die Gesundheit und Pflege. Da geht es ja auch um die demografische Frage. Wenn die Österreicherinnen und Österreicher nicht besonders gesund altern, dann fallen dementsprechend hohe Kosten an. Und die Probleme des Gesundheitsbereichs, vor allem die Finanzierung, treten gerade bei den Verhandlungen über den Finanzausgleich offen zutage. Pflege wird auf absehbare Zeit sehr personalintensiv sein, der Pflegeroboter ist noch nicht in Sicht. Der demografische Wandel führt dazu, dass es weniger Pflegekräfte bei steigendem Bedarf gibt.

Und natürlich gibt es im Gesundheitswesen das Problem, dass der eine – Länder und Gemeinden – anschafft, und der Bund zahlt.

Das fällt auf. In Österreich gibt es ein starkes Auseinanderdriften von Finanzierung und Ausführung. Tatsächlich hängt es aber meist von den Menschen vor Ort ab. Ist da jemand, der seine Sache gut oder schlecht macht?

Sollten Gemeinden und Länder mehr Steuerverantwortung übernehmen?

Das könnte man machen. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten. Wenn das Gesundheitssystem von oben finanziert wird, dann müsste der Bund auch ein strenges Controlling betreiben. In Deutschland funktioniert das in der Arbeitsmarktpolitik sehr gut. Ein wesentliches Element der Hartz-Reform war die Organisationsreform. Die Verantwortung liegt also bei den Stellen vor Ort, aber es gibt eine zentrale Kontrolle, die eingreift, wenn etwas schiefläuft.

Das hieße also, der Bund müsste mehr Kontrolle über Länder und Gemeinden haben.

Ja, das wäre ein Vorteil, weil es dann Standards für alle gibt. Eine zentrale Ebene kann die Leistungsfähigkeit viel besser überprüfen. Derzeit gibt ja jedes Land und jede Gemeinde den eigenen Standard vor.

»Man setzt in Österreich darauf, dass das Pensionssystem aus dem Staatshaushalt querfinanziert wird. Aber das funktioniert auf Dauer nicht. «

Holger Bonin

Direktor IHS

Zur Person

Holger Bonin (54) ist seit 1. Juli 2023 Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS) in Wien. Davor war er Forschungsdirektor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. In seiner Forschung beschäftigt sich Bonin mit der Wirksamkeit von Sozialpolitik in der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik. Als IHS-Chef folgt er Martin Kocher, der Anfang 2021 Arbeitsminister wurde. Interimistisch wurde das IHS von Klaus Neusser geleitet.

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