Die Angst Tibets vor der Verdrängung

INDIA TIBET PROTEST
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Durch gezielte Ansiedlung von Chinesen wurden die Tibeter zur Minderheit im eigenen Land. Ihre Proteste werden immer verzweifelter.

Peking. Jigme Gyatso hat lediglich ein Buch geschrieben. Es handelt sich um eine Sammlung von Essays seit dem tibetischen Volksaufstand von 1959 bis zur Protestwelle 2008. Und auch ein Beitrag über die vielen Selbstverbrennungen der vergangenen Jahre soll enthalten sein. Doch noch bevor das Buch in Druck gehen konnte, haben es chinesische Behörden beim Verlag beschlagnahmt. Und damit nicht genug. Tibetische Exilgruppen berichten, dass der 36-jährige Mönch und Autor bereits Anfang Jänner verhaftet und ein Gericht ihn nun vor zwei Wochen zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt hat. Fürs Schreiben.

Seit der brutalen Niederschlagung der tibetischen Proteste im Frühjahr 2008 im Vorfeld der Olympischen Spiele ist es zwar zu keinen weiteren Massenprotesten mehr gekommen. Der Frust bei den Tibetern sitzt aber auch weiterhin tief. In den vergangenen Jahren haben sich bis zu 120 Tibeterinnen und Tibeter aus Protest gegen die Unterdrückung durch die chinesische Führung selbst in Brand gesteckt.

Welle von Selbstverbrennungen

Viele Tibeter fühlen sich von der Führung in Peking sozial vernachlässigt, kulturell unterdrückt und an den Rand gedrängt. Besonders tibetische Autoren, Intellektuelle und Künstler sind in den vergangenen Jahren ins Fadenkreuz der Behörden geraten. Es kam zu einer Reihe von Fällen von „Verschwindenlassen“, Folter und Inhaftierung. Internationale Tibet-Organisationen berichten zudem immer wieder von Gängelungen der chinesischen Behörden in Klöstern und Schulen.

Waren es anfangs vorwiegend Mönche, die sich aus Protest gegen Überwachung in Klöstern und gegen patriotische Erziehungskampagnen anzündeten, sind es seit dem vergangenen Sommer auch Schüler, Lehrer, Mütter und einfache Dorfbewohner, die sich selbst verbrennen. Viele von ihnen riefen dabei „Freiheit für Tibet“ und „Rückkehr des Dalai-Lama“.

Gerade einmal rund zwei Millionen Tibeter leben in der autonomen Provinz selbst. Das Gebiet von weiteren vier Millionen Tibetern wurde nach der Besetzung durch die Armee der kommunistisch regierten Volksrepublik 1950 auf die angrenzenden Westprovinzen Gansu, Sichuan, Yunnan und Qinghai aufgeteilt. Insgesamt umfasste das alte Tibet rund ein Viertel des heutigen Staatsgebiets von China. Im tibetischen Hochland vermutet die chinesische Führung viele Rohstoffe. Forderungen nach mehr Autonomie für ein Großtibet betrachtet China deshalb auch als „Eingriff in die territoriale Integrität“.

Das lange Zeit isolierte Land mit eigener Kultur, Sprache und Schrift ist bis heute vom tibetischen Buddhismus geprägt. Schätzungen zufolge sind seit der chinesischen Besetzung mindestens 6000 Tempel und Klöster zerstört und seit dem Volksaufstand 1959, bei dem der Dalai-Lama, das traditionell politische und religiöse Oberhaupt ins indische Exil floh, mindestens 1,2 Millionen Menschen infolge von Gewalt, Hunger und Krankheiten ums Leben gekommen. Mehr als 100.000 Tibeter flüchteten ins Ausland.

Peking erkennt den inzwischen 78-jährigen Dalai-Lama als Oberhaupt der Tibeter bis heute nicht an und bezeichnet ihn als „Separatisten“.

Hungern müssen die meisten Tibeter nicht mehr. Doch Sorge bereitet ihnen, dass durch die gezielte Ansiedlung von Chinesen die Tibeter im eigenen Land zur Minderheit geworden sind. Hinzu kommt der ausufernde Tourismus. Während ausländischen Journalisten seit 2008 die Einreise verwehrt wird und auch Touristen aus dem Ausland immer wieder abgewiesen werden, fallen chinesische Urlauber seit einigen Jahren in Scharen vor allem in die tibetische Hauptstadt Lhasa ein. Jahrhundertealte Kulturgüter sind von den Menschenmassen bedroht. Auch das schürt den Unmut unter den Tibetern.

Bei den ersten Selbstverbrennungen haben sich die chinesischen Behörden noch zurückgehalten. Doch inzwischen greifen die Polizei und das Militär hart durch. Familienangehörige, Mönche und ganze Dorfgemeinschaften stehen im Visier. Anfang des Jahres hat ein Gericht erstmals sieben Tibeter wegen Beihilfe zum Mord zu bis zu zwölf Jahren verurteilt, in einem Fall wurde sogar die Todesstrafe verhängt.

Radikalisierung der Exil-Opposition

Das harte Durchgreifen bleibt auch unter den Tibetern im Exil nicht ohne Reaktion. Radikalere Stimmen, die eine Abkehr von den Dialogbemühungen mit Peking fordern, sind lauter geworden. Die erfahrenen Chefunterhändler des Dalai-Lama zeigten sich denn auch frustriert und legten im vergangenen Sommer ihr Amt nieder. Die 2002 aufgenommenen Gespräche mit China liegen ohnehin seit Jahren auf Eis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2013)

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