Die toten Seelen von Brüssel

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Was will David Cameron? Diese Frage stellten sich so gut wie alle Teilnehmer des EU-Gipfels, als sich in den Couloirs des Brüsseler Ratsgebäudes die Kunde verbreitete, der britische Premier wolle den europäischen Budgetkompromiss wieder über Bord werfen - und das wegen eines Punktes, der gar nicht auf der Agenda des Treffens stand.

War es ein kontinentaleuropäischer Überraschungsangriff auf das Privileg des Briten-Rabatts? Wollte sich das perfide Albion ein noch größeres Stück des Kuchens sichern? Oder war das Handgemenge hinter den Kulissen nur einem Missverständnis geschuldet?

Die Causa lässt zwei eher betrübliche Schlussfolgerungen zu. Eine betrifft den europäischen Maschinenraum - und zwar die Feinmechanik der Entscheidungsfindung, deren Komplexität mittlerweile selbst große Denker überfordert. Der Anlass für den nächtlichen Streit ist da ein Paradebeispiel, denn er könnte den Seiten von Nikolai Gogols Roman „Die toten Seelen" entsprungen sein: Es ging um den fiktiven Budgetposten eines längst aufgelassenen Fonds mit dem poetischen Akronym EAGFL, der aber in der Berechnungsgrundlage für den britischen Budgetrabatt verankert ist - zumindest aus britischer Perspektive. Dass die Begeisterung der Bürger für das gemeinsame Haus Europa angesichts derartiger Petitessen enden wollend ist, verwundert niemanden mehr.

Die zweite Schlussfolgerung betrifft Cameron selbst. Wer dem Premier zuhört, bekommt schnell das Gefühl, dass sich hinter seinen wohlwollenden Floskeln eine tiefe Abneigung gegen die Union verbirgt. Dass Großbritannien ein schwieriger europäischer Patient ist, wusste schon Richard Coudenhove-Kalergi (siehe Seite 6). Doch seit Camerons Amtsantritt sind die Fieberschübe häufiger geworden. Mittlerweile fällt London nur noch durch Obstruktion auf - sei es beim EU-Budget, sei es bei Justizpolitik, sei es bei Personenfreizügigkeit. Gewiss: Auch Margret Thatcher hat ihre Sträuße mit Brüssel ausgefochten. Doch bei aller Skepsis hatte sie stets eine europapolitische Strategie im Hinterkopf. Wer sie wie die konservativen Hinterbänkler auf den Schlachtruf „I want my money back" reduziert, tut der Eisernen Lady unrecht.

Gleiches gilt übrigens für die EU selbst. Denn die Gipfelbosse verdeckt die Tatsache, dass für Europa soeben eine gute Woche zu Ende gegangen ist. In den vergangenen Tagen hat die Union nicht nur die finanzpolitischen Weichen für die kommenden sieben Jahre gestellt, sie hat auch die Agrarpolitik begrünt (zwar zaghaft, aber immerhin) und mit dem Abwicklungsmechanismus einen Eckpfeiler der Bankenunion aufgestellt. Wenn alles gutgeht, wird die Sohle des europäischen Jammertals mit Jahresende durchschritten sein - und die Aufregung um die toten Seelen des Briten-Rabatts eine Fußnote bleiben. (la)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29. Juni 2013)

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