Wiener befreite entführten Neffen in Syrien

Wiener befreite entfuehrten Neffen
Wiener befreite entfuehrten Neffen(c) REUTERS (STRINGER)
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Nach monatelangen Verhandlungen machte sich Friseursalonbetreiber Mithal Mhanna auf eine dreiwöchige, nervenaufreibende Reise: Um seinen 22-jährigen Neffen aus der Hand einer Rebellengruppe freizukaufen.

Rafi Mhanna blinzelt in die Sonne. Sein rechtes Auge reagiert besonders empfindlich auf helles Licht. Im Auge und darunter stecken winzige Granatsplitter. 60 Prozent Sehkraft hat er dadurch rechts eingebüßt. Doch das sind nicht die einzigen Spuren, die ein Rebellenangriff im Körper des 22-jährigen Syrers hinterlassen hat. Noch immer spürt Rafi die Schusswunde unter seinem linken Arm. Dazu kommen die seelischen Verletzungen. Die schrecklichen Erinnerungen an ein Jahr Gefangenschaft in den Händen einer syrischen Rebellengruppe, die immer wiederkehren – auch wenn der junge Mann Syrien mittlerweile tausende Kilometer weit hinter sich gelassen hat.

„Es war schwierig, doch ich habe ihn herausgeholt. Und jetzt ist er bei mir“, sagt Rafis Onkel Mithal Mhanna und legt seinem Neffen die Hand auf die Schulter. Mithal Mhanna lebt seit 1979 in Wien, ist längst Österreicher und betreibt einen Friseursalon im vierten Bezirk. Er hatte alles in Bewegung gesetzt, um seinen Neffen Rafi zu retten, doch die Befreiungsaktion erwies sich als nervenaufreibend, war immer wieder kurz davor zu scheitern.

Vermisst nach Angriff. Zunächst war der Familie gar nicht klar gewesen, wo Rafi war. Er war einfach verschwunden – vermisst nach einem Gefecht in der syrischen Grenzstadt Azaz, nördlich der umkämpften Metropole Aleppo. Rafi Mhanna trug damals, im Juli 2012, die Uniform der syrischen Regimetruppen. Er war als Wehrpflichtiger eingezogen worden und in Azaz stationiert.

Der junge Mann lagerte mit anderen Soldaten in einem Gebäude. Plötzlich ging alles sehr schnell: Rebellen schossen in das Haus und warfen Handgranaten. Rafi wurde schwer verletzt. „Ich wollte mit einem Taxifahrer, der für die Armee arbeitete, ins Spital fahren“, erzählt er. Doch sie kamen nicht weit. Etwa 20 Bewaffnete stoppten das Auto auf der Straße. Sie legten Rafi und dem Taxifahrer Plastikfesseln an, sperrten sie in den Kofferraum eines Fahrzeuges und brausten mit ihnen davon. Die Reise endete in einem Rebellengefängnis bei Bab al-Salam, direkt an der türkischen Grenze. Hier regiert die Rebellenbrigade Afesat al-Shamal (Sturm des Nordens), die für ihre Willkürakte berüchtigt ist. Die Brigade hat international mit der Entführung von elf Schiiten aus dem Libanon von sich reden gemacht. Ihnen ist vorgeworfen worden, zur Schiitenmiliz Hisbollah zu gehören.

Im Gefängnis wurde Rafi mit dem empfangen, was in den nächsten Monaten grausamer Teil seines Alltag werden sollte: mit Schlägen, Tritten, Misshandlungen. Er wurde in eine enge Einzelzelle geworfen, später mit Dutzenden Personen in einen kleinen Raum gepfercht. „Manchmal bekamen wir kein Essen. Immer wieder drehten sie die Lüftung in dem Raum ab oder sprühten Tränengas herein“, erzählt der 22-Jährige. Und er berichtet, dort gesehen zu haben, wie andere Menschen erschossen wurden: zuerst der Taxifahrer, der ihn ins Spital bringen wollte. Dann Männer, die bezichtigt wurden, für die „Shabiha“-Milizen des Regimes zu arbeiten. Oder ein Mann und eine Frau, denen man vorwarf, „miteinander gesündigt“ zu haben.

Kontaktmann verlangt 200.000 Euro. Nach etwa 20 Tagen im Gefängnis durfte Rafi seine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass er festgehalten wird. Jetzt trat Rafis Onkel Mithal auf den Plan. Über verschiedenste Kontakte stieß der Wiener Friseur auf einen Syrer, der in Rumänien lebt und dessen Bruder in Azaz für die Rebellen arbeitet. Die Forderung des Mannes aus Rumänien: 200.000 Euro, dann komme Rafi frei. „Ich sagte ihm, dass wir nicht so viel haben“, erzählt Mithal. Er bot an, einen Rettungswagen aufzutreiben und nach Azaz zu transportieren. Doch sein Kontaktmann lehnte ab. Er verlangte Bargeld.

Dann wurde der Kommandant der Rebellenbrigade, Ammar al-Dadichi, getötet. Sein Nachfolger wurde Samir Amori. Mithal gelang es, telefonisch an einen Vertrauten Amoris namens Abu Brahim heranzukommen. Er handelte einen neuen Preis für Rafis Freilassung aus: 10.000 Dollar. Mithal besorgte das Geld und machte sich mit zwei Helfern auf den Weg nach Syrien.

Die Reise führte zunächst in die Türkei, in die Stadt Reyhanli an der syrischen Grenze. „Wir waren gerade dort, als die Bomben in der Stadt explodierten“, erinnert sich der Wiener. Am 11.Mai starben bei Sprengstoffanschlägen in Reyhanli 40 Menschen. Die türkischen Behörden bezichtigten das syrische Regime, die Attentate in Auftrag gegeben zu haben.

Am 12.Mai, dem Tag nach dem Blutbad, brach Mithal um fünf Uhr früh mit seinen beiden Begleitern zur syrischen Grenze auf. „Die letzten paar 100Meter mussten wir zu Fuß gehen“, erzählt er. Auf der syrischen Seite wartete bereits Abu Brahim, der Kontakt zum Chef der Afesat-al-Shamal-Rebellenbrigade. Er fuhr sie in die Stadt Azaz.

Schwere Zerstörungen. Der Austrosyrer erinnert sich, wie schockiert er über die Bilder war, die sich ihm dort boten: Überall waren schwere Zerstörungen durch die Kämpfe zwischen Regimearmee und Rebellen zu sehen. „Mitten auf dem Platz hatten sie zwei Leute aufgehängt.“ Zunächst hieß es warten. Mithal traf den Bruder des Rebellenkommandanten und dessen Sohn, der bei Angriffen der syrischen Armee ein Bein verloren hatte.

Dann ein Meeting in einem Saal direkt an der Grenze. Übergabe der vereinbarten 10.000 Dollar an Samir Amori. Doch der Rebellenchef wird zornig, verlangt plötzlich nicht Dollar, sondern 10.000 Euro, will Mithal Mhannas Begleiter festnehmen lassen. Erneute Verhandlungen. Dann legt Mithal noch zweieinhalbtausend Dollar drauf. Die Rebellen akzeptieren und übergeben ihm seinen Neffen Rafi. Es geht zurück über die Grenze in die Türkei.

Jetzt sind sie in Sicherheit. Doch nun beginnt der bürokratische Spießrutenlauf. Rafi hat nach seiner Befreiung keinen Pass und keine Papiere. Und damit nimmt ihn auch kein Hotel als Gast auf. Die ersten Nächte schlafen Mithal Mhanna und sein Neffe auf Bahnhofsbänken in der türkischen Hauptstadt Ankara. Dann finden sie jemanden, der sie in einem Appartement übernachten lässt.

Der Wiener geht mit seinem Neffen zur österreichischen Botschaft in Ankara. Auf Kosten der Botschaft untersucht ein Arzt Rafi, der durch seine Splitter- und Schussverletzungen und die fast einjährige Gefangenschaft gezeichnet ist. Doch ein Einreisevisum für Österreich gibt es für den 22-jährigen Syrer vorerst nicht.

„Er hat in Syrien keine Chance.“ Mithal Mhanna fährt mit Rafi nach Istanbul, versucht dort in der syrischen Vertretung Papiere für seinen Neffen zu bekommen. Doch der Versuch scheitert. Dann, am 2.Juni, plötzlich die erlösende Nachricht: Der junge Syrer darf doch nach Österreich. Die österreichischen Vertretungen in Ankara und Istanbul stellen Rafi ein Visum und einen One-Way-Pass aus. Nach drei Wochen nervenaufreibender Reise kehrt Mithal Mhanna nach Wien zurück – zusammen mit seinem Neffen, den er aus den Händen der Afesat-al-Shamal-Miliz befreit hat.

Vorerst gilt Rafis Visum für drei Monate. Doch er hat um Asyl in Österreich angesucht. „Er kann nicht zurück nach Syrien. Er kann dort auf keine der beiden Seiten“, sagt Mithal. Das Regime würde Rafi als Fahnenflüchtigen verfolgen. Für die Rebellen gilt er als Feind, den man gnadenhalber freigelassen hat. Dass Rafi Christ ist, macht ihn erst recht zum Ziel für jihadistische Fraktionen unter den Aufständischen. Für seinen Onkel ist klar: „Er hat in Syrien keine Chance.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2013)

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