Das Berliner Leben in der Friedrichstraße zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Moderne

Berlin oder Wien – eine Glaubensfrage

Anziehung und Abstoßung zwischen zwei Polen: Ein interurbaner Vergleich zwischen den konkurrierenden Metropolen Berlin und Wien mit ihrer so ganz verschiedenen Lebensart liefert zahlreiche Einblicke zur Entwicklung der Moderne. 

Die Reichshaupt- und Residenzstadt eines Reiches, das Robert Musil mit dem fantastischen Namen „Kakanien“ benannt hat, ist der Schauplatz seines Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“. Es ist Wien, doch die Entstehungsgeschichte des Buches hat viel mit Berlin zu tun. Musil lebte dort zwischen 1931 und 1933. An einer Stelle des Romans spricht er von dem imaginären Ort, an dem man sein Leben zubringen möchte, „wo es Stil hat zu verweilen, selbst wenn man fühlt, dass man für seine Person nicht gerade gern dort wäre“. Dieser Ort ist „eine Art überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und ­Erde bilden einen Ameisenbau, von ­den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. … Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre.“

Es ist nicht schwer herauszufinden, woran er da gedacht hat: nicht an Wien, sondern an seine Wahlheimat Berlin. Sie ist die Kontrastfolie vor seinem vielschichtigen Bild des alten Österreich. Denn hier, schreibt er, waren „die Spannungen und Konflikte des deutschen Geisteslebens fühlbarer als in Wien“. In Wien sei ihm die Welt des Romans „zu nahe“, daher benötige er Berlin.

Das ist nur eine von Hunderten erhellenden Analysen, die der in München lehrende Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke in seinem Buch über das spannungsreiche Verhältnis zwischen den beiden Metropolen in der Zeit von 1870 bis 1930 anführt. Es ist ein Durchgang durch eine reichhaltige interurbane Kultur- und Beziehungsgeschichte. Durch den Vergleich treten die Charakteristika der beiden Städte überaus deutlich hervor. Es ist eine intensive Anziehungs- und Abstoßungsgeschichte über zwei kulturelle Antipoden, die man als komplett verschieden wahrnahm: „Berlin oder Wien, das wurde zu einem Bekenntnis, zu einer Glaubensfrage“, schreibt der Autor, „der Städtevergleich wurde in zahlreichen Büchern und Zeitungen, im Theater und Kabarett regelrecht Mode.“

Das große Spiel der Vergleiche

Das Buch beschreibt die Berliner Blicke auf Wien und die Wiener Blicke auf Berlin, berichtet von Wienerinnen und Wienern, die begeistert nach Berlin zogen und ihre Heimstadt bald schmerzlich zu vermissen begannen, und von Berlinern, die Wien für ein provinzielles Nest hielten und ihre Faszination dennoch nicht ­verbergen konnten. Viele Intellektuelle im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert spielten das große Spiel der Vergleiche mit.

Wer vergleicht, sucht nach Unterschieden. Und so verfestigten sich Klischees. Es bildete sich eine klare Rollenverteilung heraus: Berlin stand für den preußischen Obrigkeitsstaat und Rationalität, militärische Organisation und vernunftorientierten Rationalismus. Es verkörpert den ungebremsten Fortschritt, Technik und Tempo. Wien dagegen ist die durch eine weit in die Vergangenheit zurückreichende Entwicklung souveräne und gelassene Hauptstadt, in der die Verhältnisse mit Abgeklärtheit und Distanz gesehen werden. Es ist die Stadt mit Landschaft und Geschichte, sie verkörpert den sinnenfrohen Katholizismus, gilt als Hort barocker Lebenslust und freundlicher Wärme. Gegenläufiger können diese Mentalitäts­modelle gar nicht sein.

Es waren vor allem zwei Dichter, die Wien dieses Image der „Wollust des Lebens“ verpassten. Friedrich Schiller schrieb 1801 über die „Phäaken“, die es sich stets gutgehen lassen und sorgenfrei dahinleben: „Immer ists Sonntag, es dreht immer am Herd sich der Spieß.“ Franz Grillparzer nannte Wien das „Capua der Geister“, in Anspielung auf das Image des antiken Capua als verweichlichte Dolce-Vita-Stadt. Er beklagte die unproduktive Atmosphäre der Stadt, in der das Leben zu schön sei, um Kunstwerke schaffen zu können. Im Gegensatz zu Capua stand Berlin, das seit der Blüte der Aufklärung Sitz rationaler Denker war und den Beinamen „Spree-Athen“ erhielt.

Felix Salten nannte diese Charakterisierung von Wien und Berlin „Phrasenungeziefer“. Er plädierte 1907 für einen frischen, von den immer gleichen Formeln und Zuschreibungen befreiten Blick auf das moderne Wien. Doch die Rollenverteilung hielt sich hartnäckig, die klischeehaften Positionen waren fixiert. Wien wird zum positiven Gegenpol der kapitalistischen Moderne, zum Sehnsuchtsort und zur Traumstadt derer, die an der schnelllebigen Zivilisation leiden. Sie schätzen die rückwärtsgewandten Züge der Stadt. Der Autor nennt das „dualistische Stadtanthropologie, in der Berlin und Wien grundverschiedene Pole darstellten“. Er wird nicht müde, die Variationen in seinem reizvollen Text darzustellen. Das reicht von der Landschaft, der Musik, der Literatur bis hin zu den Vergnügungen, dem Kabarett und dem Frauenbild.

Die weite Ebene, der sumpfige Grund und der märkische Sand fehlen in kaum einer Berliner Stadt­beschreibung, meist ist das Urteil vernichtend. Es hieß, Berlin habe eigentlich keine Gegend, sei eine „Stadt ohne Landschaft“. Seine Verhältnisse seien auf Sand gebaut, sein permanenter Wandel erscheint daher als logische Folge dieses ungesicherten Untergrunds. Vielleicht auch die Tüchtigkeit seiner Bewohner: Nur besonders zähe und fleißige Kolonisten könnten aus dieser öden Sandwüste etwas machen. Dagegen Wien: die reine Augenweide! Die Auenlandschaft der Donau, der Wienerwald! Die meisten hatten die Veduten von Rudolf von Alt vor Augen, die die malerische Wiener Topografie im kollektiven Bildgedächtnis verankerten. Wien, die Stadt, in der Natur und Kunst eine Symbiose eingehen. Die Landschaft durchdringt die Stadt, und die Stadt ist eingebettet in die Landschaft.

Berlin rennt, Wien spaziert

Unversehens wurde aus dem Wiener Straßennetz, das zumindest in der Innenstadt gekrümmte und verwinkelte Gassen aufweist, im Gegensatz zum einförmigen Straßenraster Berlins, mit leichter Hand eine „ganze Anthropologie des Gemütlichen und Ungemütlichen abgeleitet, eine Choreographie des städtischen Tempos“, so Wietschorke. Der Berliner rennt, der Wiener spaziert. Der in Berlin lebende Pazifist Alfred Fried schrieb: „Wenn der Berliner auf die Straße geht, dann geht er eben irgendwohin, das ziellose Flanieren des Wieners kennt er nicht“, weil alles auf den „Kampf mit der Zeit“ eingestellt sei.

Nach dem Ersten Weltkrieg schlugen viele Wiener Kunst- und Kulturschaffende ihre Zelte in Berlin auf, um vom boomenden Weltstadtgetriebe zu profitieren. Die Abgewanderten hörten freilich nicht auf, die alte Stadt an der Donau aus der Distanz zu umschwärmen, doch der rasante Pulsschlag, der im Berlin der 20er-Jahre zu merken war, war attraktiver. In Wien, dem „absterbenden Riesendorf“ (Franz Kafka), schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Berlin wurde zur Stadt der Moderne, mit dem Groß-Berlin-Gesetz von 1920 überschritt die deutsche Hauptstadt die Marke von vier Millionen Einwohnern und wurde als Metropole zum politischen, sozialen und kulturellen Experimentierfeld der Weimarer Republik.

Einen vergleichbaren Bedeutungsschub erlebte das provinziell gewordene Wien, die „Hauptstadt ohne Reich“, damals nicht, obwohl versucht wurde, das „Rote Wien“ als Marke gegen die „Weltstadt Berlin“ zu positionieren. Doch die Moderne gehörte nicht zum offiziellen Wien-Bild. Die Literatur war auf das verflossene Habsburgerreich fixiert, Feuilletons, Revuen und Operetten blieben lieber beim gemütlichen Wien und reproduzierten Bilder, die schon um 1900 eigentlich veraltet gewesen waren. „Das Imaginäre der Stadt hinkt seiner Zeit meist hinterher“, schreibt der Autor.

„Es sind jetzt sehr viel Wiener in Berlin“, schrieb Alfred Polgar 1922, er gehörte selbst dazu. Ein Grund, warum so viele Künstler (Joseph Roth, Anton Kuh, Egon Friedell, Hermann Bahr, Stefan Zweig, Felix Salten, Oskar Kokoschka) übersiedelten oder pendelten, war neben der Anziehungskraft Berlins die rigide Luxusteuer des Wiener Finanzstadtrats Breitner, die Kulturschaffende schwer traf. Und alle regten sich auf: über „die rückständigen Wiener Verhältnisse, den seelenlosen Berliner Amerikanismus oder die blasierten Intellektuellen beider Städte zusammen“. Man liest diese Beziehungsgeschichte, in der sich die zeitgenössischen Positionen von Modernismus und Antimodernismus, von Beschleunigung und Entschleunigung spiegeln, mit Vergnügen und intellektuellem Gewinn.

Erschienen

Jens Wietschorke:

„Wien Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde“

Reclam-Verlag,
345 Seiten, 26,90 Euro

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