Wer baut das sichere Stadtrad?

Reuters / Piroschka Van De Wouw
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Die Branche beharrt auf unsicherer Rennrad-Ergonomie: Vor 90 Jahren wurde das falsche Pferd geschlachtet, beklagt der deutsche Autor und »Fahrradprofessor« Hans-Erhard Lessing.

Stadtplanung ist manchmal ein hartes Brot. Da hat man einen neuen Radweg realisiert und nun wird er kaum benutzt, während die Anrainer der verlorenen Parkplätze wegen toben. Warum springt jetzt nicht die ganze Stadt aufs Rad und nutzt ostentativ den neuen Radweg?

Eine Antwort könnte sein, dass all jene, die sich mit den Zumutungen des Einheitsfahrrads abfinden, ja bereits fahren. Und dass alle anderen das Fahrrad eben nicht so attraktiv finden und andere Verkehrsmittel bevorzugen. Die modische Kleidung könnte ja ruiniert werden. Überhaupt hat man dabei ein unsicheres Gefühl und muss stets mit Schrammen am Schienbein rechnen. Denn bei jedem Stopp muss man abspringen, und da sind die unberechenbaren Pedalkurbeln im Weg und schlagen manchmal zu. Daher gibt es jetzt in Holland an manchen Ampeln am Straßenrand erhöhte Podeste, auf denen die Radfahrer sich bei Rot mit dem rechten Fuß abstützen können, um nicht abspringen zu müssen. Tatsächlich gehen viele Radfahrer im Verkehr allzu oft Risiken ein, nur um nicht stoppen und abspringen zu müssen. Motorradfahrer würden sich schön bedanken, wenn sie bei jedem Stopp „abspringen“ sollten. Und warum muss das so sein? Weil der Radrennsport-Dachverband namens Union Cycliste Internationale (UCI) mit Sitz am Genfer See es so will.

Anno 1934 kam Charles Mochet, ein Pariser Hersteller von vierrädrigen Tretmobilen (Vélocars) für Badeorte, wie man sie heute noch dort mieten kann, auf eine Idee. Warum nicht das Fahrrad tiefer legen, mit einem Sitzkissen nebst Rückenlehne versehen und somit dem Fahrer mehr Kraft zum Treten nach vorn geben? Dann könnte man im Sitzen ohne Abspringen anhalten und die Füße flach auf den Boden setzen. Ein noch unbekannter Radrennfahrer brach mit diesem „Vélo Vélocar“ auf der Pariser Radrennbahn alle bestehenden Rekorde, woraufhin die UCI die Rennradnorm so festzurrte, dass die Pedalkurbeln direkt unter dem Fahrer zu liegen hatten und somit die bessere Ergonomie hinfort von Radrennen ausgeschlossen war. Damit folgte man der Regel, dass im Maschinensport die Geräte alle gleich sein sollten, um die sportliche Leistung vergleichen zu können. Jede Verbesserung wird beim UCI als „unfairer Vorteil“ geahndet, während doch andere Sportarten wie die Bobfahrer ihre Bobschlitten munter von Wissenschaftlern optimieren lassen.

Aber was scheren den Radfahrer im Stadtverkehr die Sorgen von Rennsportfunktionären? Als ziviler User möchte man doch unfaire Vorteile so viel wie möglich haben – bis hin zum helfenden Elektromotor! Aber Vorhang auf für den zweiten Verschwörer gegen die Fahrradsicherheit: den Einkäufermarkt Fahrrad. Ganz anders als beim Verkäufermarkt Auto bestimmen hier die Fahrradhändler mit ihrem Orderverhalten, was die Hersteller bauen. Und Erstere rekrutieren sich über­wiegend aus dem Radrennsport. Ein ­innovatives Fahrrad wie das Sprick-Comfortable des Designers Odo Klose wurde durch Nichtbestellen abgestraft und musste sein Heil im Vertrieb über die Handelskette Metro suchen, was nach 30.000 verkauften Rädern leider schiefging. Die Technikgeschichte ist voll von innovativen Fahrrädern, die am Boykott des Fachhandels, der nur das Sportnormrad gelten lässt, scheiterten.

Jedem ist es schon einmal passiert, dass er bei der kleinsten Unachtsamkeit vom Fahrrad kippte, ganz allein, ohne Unfallgegner. Das geht meist glimpflich aus, kann aber auch tödlich enden, etwa wenn der Kopf unglücklich auf dem Randstein auftrifft und das Genick bricht. Davor kann selbst ein Fahrradhelm nicht schützen. Derartige Alleinunfälle sind nirgends dokumentiert, weil sie der Polizei nicht gemeldet werden. Man schätzt sie auf mindestens ein Drittel aller Fahrradunfälle. Ungeschick ist aber nicht die einzige Ursache für Fahrradstürze. Der Alleinunfall-Klassiker ist der Flug über den Lenker infolge Blockade des Vorderrads, meist durch am Lenker angehängte Einkäufe, die zwischen die Speichen geraten. Auch im Fahren hochgewirbelte Zweige können das bewirken, oder wenn der vordere Reifen eine Panne erleidet. Hinzu kommt neuerdings, dass bei panischem Bremsen mit Scheibenbremsen das Vorderrad blockiert und der Fahrer über den Lenker geworfen wird (laut Umfrage bei 57 Prozent aller E-Bike-Unfälle). Noch ein Übel: Lenkerenden und die spitzen Enden der Bremshebel, die sich bei einem Sturz in den Bauch bohren können. Erst kürzlich berichtete der SWR von einer gestürzten jungen Frau, die nach sechs Wochen Koma damit zu leben hat, dass sie keine Kinder bekommen kann. Aber entschärfte Lenker vorschreiben? Wieso denn das?

Kurz: Das derzeitige Standardfahrrad ist, ergonomisch betrachtet, eine unfallträchtige Fehlkonstruktion für den Straßenverkehr. Die Verantwortung dafür liegt beim Verkehrsministerium, weil das Fahrrad vom strengen Maschinenschutzgesetz ausgenommen ist. Das Ministerium delegiert sie an den DIN-Normenausschuss, in dem die Hersteller unter sich sind. Wo keine Statistiken über Alleinunfälle, da offenbar kein Handlungsbedarf.

Immerhin importiert inzwischen die US-Firma Trek die tiefergelegten Beach-Cruiser-Fahrräder Electra mit „Flat Foot Technology“, von denen man nicht abspringen muss. Aber das Verkehrsrad muss möglichst alle Sturzursachen und -folgen ausschalten durch solche Vorkehrungen: Tiefergelegt, um im Sitzen ohne Abspringen und Schrammen stoppen zu können – mit den Füßen flach auf dem Boden. Pedalkurbeln weiter vorn, fern von den stützenden Füßen. Scheibenräder ohne Speichen sowie Kette verkapselt. Abgerundeter Hornlenker und ebenso Bremshebel. Kleiderschonender Sitz mit Beckenstütze.

Ernst von der Osten-Sacken, Maschinenbau-Professor an der TH Aachen, bemerkte dazu sarkastisch: „Im sportlichen Bereich des Fahrradfahrens wird die Gefahr oberhalb eines vernünftigen Grenzrisikos gesucht, so dass die Gesellschaft dagegen machtlos ist.“ Aber muss für eine Verkehrswende im Straßenverkehr der Staat Schulkinder wie Erwachsene auf dem Rad nicht besser schützen? Die Fahrradtoten in Deutschland haben 2022 auf 470 von 372 im Vorjahr zugenommen (Anm.: In Österreich liegt diese Zahl auf dem relativ hohen Stand von 44. Im Jahr 2015 und von 2017 bis 2020 gab es weniger Getötete).      

Cc By-sa 3.0 - Nicola

Fahr-Rat

Hans-Erhard Lessing. Jahrgang 1938,
deutscher Physiker und Technikhistoriker, Autor und a. o.
Professor der
Universität Ulm.

Nachgelesen. Von Hans-Erhard Lessing und Tony Hadland jüngst erschienen: „Evolution des
Fahrrads“,
Springer Nature, Heidelberg,
521 Seiten,
29,99 Euro.

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