Gastkommentar

Wohin will die Oper heute?

Liebe Opernfreunde, üben Sie sich in Geduld! Was heute modern ist, ist morgen altmodisch; was heute in ist, ist morgen out.

Wie auch immer man die Entwicklung der Kunstgattung Oper – heute auch als Musiktheater bezeichnet – betrachtet, es ist eine Tatsache, dass sich deren Aufführungsform radikal geändert hat.

Wenn Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Besetzung der Gesangssolisten dominant und ausschlaggebend für den Besuch einer Vorstellung war, sind diese seit einiger Zeit in den Hintergrund geraten. Der italienische Tenor Enrico Caruso (1873–1921) hatte noch seinen Sekretär zur Probe in die Hofoper geschickt, der ihm dann mitteilte, wo er wann auf der Bühne zu stehen habe und welche Wünsche und Vorstellungen der Dirigent hat. Die Kostüme der Solisten und Choristen waren historisch angepasst, ebenso die Requisiten. Ein Degen war ein Degen und kein Revolver, und eine weiße Perücke war keine Glatze.

Ein Degen war ein Degen, eine Perücke keine Glatze

Die Wiener Staatsoper pflegt und hütet ihre „Tosca“-Inszenierung von Margarete Wallmann aus den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wie ein goldenes Stück Schatz. Die Basilika Sant’Andrea della Valle ist eine von jedermann erkennbare Kirche, und das Wahrzeichen Roms, die Engelsburg, ist durch den gemalten Hintergrundhorizont wahrnehmbar. Und es gibt, wie der Komponist es vorgeschrieben hat, selbstverständlich zwei Pausen. Doch wehe, wenn heute die Inszenierung versucht, die Intentionen der Vorgabe von Text und Musik zu befolgen! Dann ist der Regisseur oder die Regisseurin wie auch der Intendant als Arbeitgeber konservativ, vorgestrig und fehl am Platz.

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Es geht weltweit vor allem um die angeblich 37 bekanntesten und meist gespielten Operntitel. Zeitgenössische Werke, die gespielt werden, gibt es de facto nicht, und wenn, wird nur die Uraufführung gespielt. Diese darf dann im Sinne und mit der Zustimmung des Autors inszeniert sein. Für bekannte Opern von bekannten Komponisten von Mozart bis Puccini und Richard Strauss ist die von der Regie erfundene Geschichte entscheidend und nicht die Vorlage. Sie muss auf jeden Fall „heutig“ sein, das heißt in der Gegenwart spielen und unsere aktuellen Probleme wiedergeben. Was Da Ponte, Schiller, Shakespeare oder Boito wollten, ist irrelevant, was der Komponist daraus in Noten setzte, muss notgedrungen umgesetzt werden.

Alles, was radikal anders ist, als es Librettist und Komponist vorgaben, nennt man Regietheater. Alles, was eine andere Geschichte oder gar keine Geschichte erzählt, nennt man Regietheater. Bühnenbilder, die zum Verständnis der Geschichte beitragen sollten, sind unnötig geworden. Sänger und Dirigenten sind für die Regisseure untergeordnete, doch unabkömmliche Mitwirkende.

Videowiedergaben wovon auch immer, Statisten anstelle der Solisten, die nur noch zu singen haben, Kinder und Tänzer sowie möglichst halb oder ganz nackte Menschen, meist mit Sonnenbrillen auf der Bühne, sind stets willkommene Hilfsmittel. Damit der Zuschauer etwas von den technischen Neuerungen hat, wird er mit Brillen bestückt, um zu sehen, was andere, nicht dermaßen Ausgerüstete, nicht sehen.

Natürlich gibt es auch kluge, werkimmanente, gute und verständliche Inszenierungen, die nicht in der Entstehungszeit spielen, sondern in die nähere oder heutige Zeit versetzt werden und dennoch den Kern der Geschichte bewahren, aber das sind sehr rare, gelungene Produktionen und leider nur Ausnahmen.

Lieber Opernfreund, üben Sie sich in Geduld, denn was heute modern ist, ist morgen altmodisch, oder im heutigen Jargon: Was heute in ist, ist morgen out.

Ioan Holender (* 1935 in Timisoara, Rumänien) war von 1992 bis 2010 Direktor der Wiener Staatsoper.

E-Mails: debatte@diepresse.com

(“Presse“-Printausgabe 25.8.2023)

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