Gastkommentar

Es liegt an der Trägheit der (Opern-) Hausverwalter

Kufner Mortier Hartberg Auffürungspraxis
Kufner Mortier Hartberg AuffürungspraxisPeter Kufner
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Replik. Ioan Holender beklagt den Zustand der gegenwärtigen Opernlandschaft. Der 2014 verstorbene Gerard Mortier antwortet.

Ioan Holender hat recht: „Zeitgenössische Werke, die gespielt werden, gibt es de facto nicht, und wenn, wird nur die Uraufführung gespielt.“ Er vergisst hinzuzufügen: Das liegt nicht an der Borniertheit des Publikums und schon gar nicht an der künstlerischen Impotenz lebender Komponistinnen und Komponisten, sondern ausschließlich an der Trägheit von (Opern-)Hausverwaltern, die unkritisch und ohne ein eigenes künstlerisches Konzept den in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts versteinerten Repertoire­kanon nachbeten.

Gerard Mortier formulierte es einst so: „Dass die Mehrzahl der Opernhäuser nicht mehr als 15 % ihrer Spielpläne Werken des 20. Jahrhunderts widmet, ist erstaunlich, weil das 20. Jahrhundert viel mehr interessante Opern hervorgebracht hat als das 19. Es gibt zumindest fünfzig bemerkenswerte Werke, die zum großen Repertoire des 20. Jahrhunderts gehören, während sich im 19. Jahrhundert schwerlich mehr als vierzig finden, von denen ich glaube, dass sie die Mühe einer Aufführung lohnen. Die Fortsetzung einer im Wesentlichen dem 19. Jahrhundert oder der Wiederentdeckung von mit Recht vergessenen Werken gewidmeten Programmgestaltung wird furchtbare Folgen für die Zukunft der Oper haben.“

Mortier gibt es nicht so billig

Ioan Holender teilt in seinem Text in der „Presse“ (25.8.) außerdem mit, dass seinem Anspruch an eine Inszenierung von Puccinis „Tosca“ vollkommen Genüge getan ist, wenn er auf der Bühne die Basilika Sant‘ Andrea della Valle erkennen und die Engelsburg als gemalten Hintergrundprospekt sehen kann. Das ist ein geradliniger Denkansatz, der nicht zuletzt durch seine lobenswerte Bescheidenheit besticht. Gerard Mortier gibt es bei seinem Bemühen, tiefer zur Bedeutung von Notentext und Libretto vorzudringen, nicht so billig:

Der Autor:

*Gerard Mortier (1943–2014) war Intendant der Brüsseler Oper La Monnaie (1981–1991), der Salzburger Festspiele (1991– 2001), der Ruhrtriennale (2002–2004), der Opéra National de Paris (2004–2009) und des Teatro Real in Madrid (2010–2014). Die Textpassagen aus seinem Buch „Dramaturgie einer Leidenschaft. Für ein Theater als Religion des Menschlichen“ sind mit freundlicher Genehmigung des Verlages Bärenreiter vom Dramaturg und Autor Sven Hartberger ausgewählt, eingerichtet und eingeleitet worden.

„Eine Opernvorstellung basiert immer auf einem Substrat, das interpretiert werden muss, damit das Stück lebendig wird. Dieses Substrat findet sich in den drei Elementen der Partitur: in der musikalischen Notation, im Text und in den szenischen Anweisungen. An der Interpretation dieser drei Elemente entzünden sich die Diskussionen. Wenn man bedenkt, wie sich in jeder Religion auf der Grundlage desselben Textes verschiedene Sekten bilden, gibt es keinen Grund, darüber überrascht zu sein, dass die Interpretation eines musiktheatralischen oder literarischen Werkes so viele gelegentlich heftige Reaktionen auslöst. In der Oper sind die in der Partitur fixierten Notentexte notwendigerweise Reduktionen des musikalischen Gedankens. Die kritischen Ausgaben der großen Mozartopern, erschienen bei Bärenreiter, sind begleitet von Büchern mit Hunderten Seiten von Anmerkungen zu den Notentexten und ihren verschiedenen möglichen Auslegungen. Die Komponisten selbst haben übrigens häufig Orchestration, Dynamik und Tempi nach dem Anhören einer ersten Aufführung geändert, ohne dass diese Änderungen immer publiziert worden wären.

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Die Frage der Texttreue wirft ein anderes Problem auf. Es ist erstaunlich zu sehen, wenn die Adaption der Sprechtexte im deutschen Singspiel oder in der komischen Oper kritisiert wird. Ich halte diesen Vorstoß für äußerst nützlich und sogar für notwendig, wenn es sich um verstaubte Texte handelt wie im Fidelio oder in der Zauberflöte, die schnell hingeschrieben worden sind, oft von verschiedenen Autoren. Die meisten Diskussionen lösen aber immer die szenischen Anweisungen aus. Häufig sind sie für den Autor nichts weiter als eine Hilfestellung für die szenische Dramaturgie, die nicht notwendigerweise wörtlich genommen werden muss. Es ist außerdem gewiss, dass die Anweisungen in einer anderen Epoche anders ausgefallen wären. Was soll man zum Beispiel tun mit den mittelalterlichen Ausstattungen, die Maurice Maeterlinck für manche seiner Theaterstücke forderte, wenn man doch weiß, dass er dabei an ein von Viollet-le-Duc erfundenes Mittelalter dachte?

Was schließlich die historisierenden Kostüme angeht, sind diese eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die es davor in der Geschichte des Theaters nicht gegeben hat. Die Stücke von Shakespeare und Goldoni wurden immer in zeitgenössischen Kostümen gespielt. Die Forderung ‚historischer‘ Dekorationen und Kostüme für die Aufführung eines Stücks aus der Vergangenheit ist eine reine Voreingenommenheit. Es macht keinen besseren Romeo und keine bessere Julia aus zwei jugendlichen Amerikanern, wenn man sie in Renaissance-Kostüme kleidet, als wenn sie in Jeans in den Städten spielen, in denen die Clans sich gegenseitig umbringen. Historische Kostüme machen keine historischen Persönlichkeiten. Ein Stück zu spielen, das von einer historischen Tatsache handelt, weil man glaubt, dass diese uns heute etwas zu sagen hat, verlangt eine tiefergehende Überlegung als die Schauspieler in Imitate historischer Gewänder zu stecken. Viele der zahlreichen Missverständnisse in allem, was Werktreue, Tradition und historische Stimmigkeit betrifft, gehen Hand in Hand mit der Auffassung, die man von dem hat, was Oper zu sein habe. Die uns erzählen, dass man ins Theater gehen muss, um zu träumen, sind falsche Propheten. Sie fordern, das Theater solle unterhaltsam und populär sein. Unterhaltung ist ein Element des Theaters, aber nicht sein Zweck.

Traditionalist oder Faulpelz?

Die angeblichen Traditionalisten sind häufig einfach Faulpelze, die sich weigern, Gewohnheiten infrage zu stellen. Was sich Werktreue nennt, ist oft nicht mehr als die über dem enthüllten Gral schwebende Taube im ‚Parsifal‘; die beiden Kerzenleuchter, die ‚Tosca‘ am Ende des zweiten Akts neben den Leichnam des ermordeten Scarpia zu stellen hat; das Bild der sternenumkränzten Königin der Nacht und eine bemalte Leinwand mit einem rauchenden Vesuv in ‚Cosi fan tutte‘. Und warum denn nicht? Weil mir die Bestürzung von Hans Sachs in seinem Wahnmonolog zum ersten Mal verständlich wurde, als ich sie in einer Inszenierung von Konwitschny vor einer großen Fotografie des zerbombten Nürnberg dargestellt gesehen habe, während im ersten und zweiten Akt Nürnberg durch einen schönen alten Stich symbolisiert worden war. Das hat mir mehr über das Stück von Richard Wagner gesagt als die kleinen Pappmachéhäuschen, mit denen die Traditionalisten das Nürnberg des 16. Jahrhunderts vorgestellt sehen wollen.

Theater muss erschüttern

Theater muss ständige Bewegung sein, so wie die Welt selbst, deren Abbild und Sprachrohr es ist. Ein Theater, das sich ans Historische heftet, wird zum toten Buchstaben. Theater muss nicht schockieren, aber es muss uns aufrütteln in unseren täglichen Gewohnheiten, unserem Konformismus und in unseren Gefühlen, wo sich diese auf bloße Sentimentalität beschränken. Auf diese Art kann das Theater zum Keim unseres Handelns in der Welt werden, weil es uns im wahren Sinn des Wortes erschüttert und weil die aus dieser Erschütterung hervorgehenden Emotionen die Kreativität sprudeln lassen, welche die existentielle Kraft des Menschlichen ist..“

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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