Filmfestival Venedig

Auch in Venedig sind Filme oft nur „Content“

Patrick Dempsey, Michael Mann und Adam Driver bei der Premiere des Kinofilms Ferrari auf der Biennale di Venezia 2023.
Patrick Dempsey, Michael Mann und Adam Driver bei der Premiere des Kinofilms Ferrari auf der Biennale di Venezia 2023.Imago / Dave Bedrosian
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Jurychef Damien Chazelle prangert am Lido den Konsumkult der US-Studios an. Doch Europas Filmfestivals sind selbst nicht frei davon.

Das Wetter hat aufgeklart, die Sonne ist Venedig wieder hold. Vorerst ist Schluss mit den Flutwarnungen in der Lagunenstadt. Doch Hollywood steht das Wasser trotzdem bis zum Hals, seine Sommerfrische am Lido bleibt getrübt. Der Streik der Autoren und Schauspieler macht sich hier auch im journalistischen Alltag bemerkbar: Stars, die Mitglied der SAG (Screen Actors Guild) sind, dürfen in Interviews ausschließlich über jene Filme reden, mit denen sie im Programm der heurigen Festivaledition vertreten sind.

Der Arbeitskampf in der Unterhaltungsbranche rüttelt an den dubiosen Zukunftsvisionen der Studio-Platzhirsche, die ein bisschen zu tief ins KI-Glas geschaut haben. Auch ihre geliebten Blockbuster busten neuerdings keine Blöcke mehr. Selber schuld, insinuierte der US-Regisseur Damien Chazelle („Babylon“), der dieses Jahr der Venedig-Festivaljury vorsteht. Bei deren erster Pressekonferenz trugen er und seine Kollegen Martin McDonagh und Laura Poitras T-Shirts mit der Aufschrift „Writers Guild on Strike!“, das letzte Wort in großen roten Versalien – fast wie auf dem deutschen Plakat zu Sergei Eisensteins Revolutionsfilmklassiker aus dem Jahr 1925.

Der Kult des „Content“

Das Kernproblem der Traumfabrik sei der dort vorherrschende Kult des „Content“, so Chazelle, also der restlosen Reduktion von Filmen auf ihren Warencharakter. Verlangt würden nur noch zielgruppengerechte „Inhalte“ vom Fließband, mit denen die kommerzielle „Pipeline“ der Multiplex-Säle und Streaming-Plattformen laufend beschickt werden kann – ganz ohne lästige und unberechenbare Eigenheiten, die bisweilen zu Reibungen führen und so Profite gefährden. Diese Einstellung lasse der Kunst am (und im) Kino keinen Raum mehr, sie entwerte die Leistungen aller Beteiligten.

Beim Filmfest Venedig kommt das natürlich gut an. Hier wähnt man sich in einem schöngeistigen „Safe Space“, wo europäische Denkungsart den Künstlern unter den Geschäftemachern der US-Filmindustrie die Stange hält: Ein sicherer Hafen für eigenwillige Regie-Renegaten wie Michael Mann („Ferrari“), die im algorithmisch durchoptimierten Content-System keinen Platz mehr haben.

Das stimmt bis zu einem gewissen Grad – doch bei weitem nicht in dem Maß, wie Europas A-Festivals es von sich behaupten. Auch sie sind längst Teil einer Content-Maschinerie der Marke Eigenbau, und der Druck, mit dem Filme durch deren prominenteste Durchlauferhitzerevents geschleust werden, hat mit Kunstsinnigkeit wenig zu tun. Im hektischen, überreizten, (US-)diskursgetriebenen Festivalzirkus werden diese oft genauso beiläufig konsumiert wie auf Netflix, die Schlangen vor den Sälen ähneln denen beim Buffet an der örtlichen Strandbar. Und Kino, dass sich ästhetisch nicht unmittelbar erschließt oder mehr Aufmerksamkeit erfordert als ein müder Morgen hergibt, ist den imagebewussten Wettbewerbsbestückern gemeinhin auch hier nicht „Content“ genug.

Immerhin: Wer in der Sala Grande im modernistischen Palazzo del Cinema sein Handy zückt und aufs Display schaut, wird flugs von Aufpassern mit grünem Laserpointer ins Visier genommen, auf dass man das böse Leuchtgerät umgehend wieder einsteckt. Das mag übergriffig, ja, dystopisch anmuten. Und letztlich mehr dem Schutz vor Piraterie dienen als irgendeiner cineastischen Pietät. Aber es erinnert einen doch daran, warum man eigentlich am Lido ist: Nicht wegen der neuesten News aus der digitalen Content-Mühle. Sondern wegen der Filme auf der Leinwand.

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