Nur Schuldzuweisungen

Sportpolitik. Die Türkei streitet über den IOC-Beschluss für Tokio. Neuer Anlauf für 2024?

Istanbul. Kaum hatte das IOC seine Entscheidung für Tokio als Austragungsort der Sommerspiele 2020 bekannt gegeben, begann in der Türkei neuer Streit. Mit großen Hoffnungen hatten die Türken die fünfte Bewerbung ihrer Metropole Istanbul betrieben. Bis ins Finale drang Istanbul vor, unterlag dann aber der japanischen Hauptstadt. Parteifreunde von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zeigten sofort mit dem Finger auf die türkische Protestbewegung: Die Demonstranten vom Gezi-Park hätten mit ihren Aktionen im Juni dem Image des Landes geschadet und seien „Verräter“.

Erdoğan, der mit einer großen Ministerdelegation nach Argentinien gereist war, sagte unmittelbar nach der Abstimmung, es sei enttäuschend, dass das IOC mit Tokio eine Stadt gewählt habe, die anders als Istanbul schon einmal Gastgeberin der Spiele gewesen sei. Erdoğans Europaminister, Egemen Bagis, erklärte, nicht Istanbul sei der eigentliche Verlierer, sondern die Olympischen Spiele, denn das IOC habe eine historische Gelegenheit verpasst.

Die Istanbuler Bewerbung drehte sich ganz um die Brückenfunktion Istanbuls zwischen Ost und West, Asien und Europa, islamisch und christlich geprägter Zivilisation. Die Regierung stellte Milliardensummen für Infrastrukturprogramme zur Verfügung; unter anderem sollten mehrere Sportstätten und eine ganz neue Stadt im Istanbuler Norden gebaut werden. Die 2020er-Spiele, drei Jahre vor dem 100. Jubiläum der Republikgründung 1923, wären eine Auszeichnung für die Türkei gewesen.

Doch die Gezi-Unruhen vom Juni und der Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien belasteten die Istanbuler Kandidatur. Mehrere IOC-Mitglieder wurden nach dem Votum in Buenos Aires mit den Worten zitiert, Tokio sei im Vergleich zu den als instabil erscheinenden Mitbewerbern Istanbul und Madrid eine „sichere Wahl“ gewesen.

Für Melih Gökcek, Bürgermeister von Ankara und Parteifreund Erdoğans, steht fest, weshalb dieser Eindruck aufgekommen ist: Die Mitglieder der Protestbewegung hätten der Türkei geschadet, erklärte Gökcek über Twitter. „Verräter, ihr könnt stolz darauf sein, wie ihr unser Land schlechtgemacht habt.“

Auch Erdoğan-Berater Yalcin Akdogan kritisierte, es gebe Menschen in der Türkei, die das Votum gegen Istanbul mit „Schadenfreude“ aufgenommen hätten. Dagegen erklärte die „Taksim-Plattform“, ein Dachverband der Protestbewegung, die Regierung sei scheinheilig. Während die Führung des Landes „im Namen der Jugend und des Friedens“ die Olympischen Spiele nach Istanbul holen wollte, seien Unterdrückung und Rufe nach einer Intervention in Syrien weitergegangen.

„Die Spiele nicht verdient“

Auf den Straßen Istanbuls gingen die Meinungen auseinander. „Wir sind alle enttäuscht“, sagte ein Passant, Önder Son. „Wir hätten die Spiele bekommen sollen, aber sie haben sie uns nicht gegeben, weil wir ein muslimisches Land sind.“

Andere Istanbuler waren erleichtert. „Wenn Istanbul gewonnen hätte, wäre das ein großer Erfolg für die Regierung gewesen, und das hätte ich nicht gewollt“, sagte ein Frau. Ein Kurde, der im Staatsdienst arbeitet und dort unter Diskriminierung zu leiden hat, sagte, die Türkei sei ein „anti-demokratisches Land“ und habe „die Spiele nicht verdient“.

Erdoğan-Berater Yalcin Akdogan deutete aber an, dass die Türkei bereits über eine Bewerbung Istanbuls für die Spiele 2024 nachdenkt; es wäre die sechste. Auch die Opposition signalisierte ihre Unterstützung für einen neuen Versuch.

Selbst für 2020 hat die Türkei noch nicht alle Hoffnungen aufgegeben. So will der Fußballverband mit Volldampf die Bewerbung um die Ausrichtung von Spielen der Fußball-EM 2020 vorantreiben. Angeblich liegt bereits eine Zusage von Uefa-Chef Michel Platini vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2013)

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