Interview

Historiker Tanner: „Die Schweiz profitierte vom Krieg der anderen“

Das Bankengeschäft gehört zum Schweizer Erfolgsmodell. Die Credit Suisse-Pleite war eine unrühmliche Ausnahme.
Das Bankengeschäft gehört zum Schweizer Erfolgsmodell. Die Credit Suisse-Pleite war eine unrühmliche Ausnahme.Reuters / Denis Balibouse
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Der Schweizer Historiker Jakob Tanner erläutert die Schweizer Strategie des „Sich-nützlich-Machens“. Das Verständnis der Neutralität wandle sich aktuell unter den Bedingungen des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Die Presse: Warum geht es der Schweiz so gut?

Jakob Tanner: Die Schweiz verfügt trotz offensichtlicher Probleme, die sich gerade in der Neutralitätsdebatte und beim Untergang der traditionsreichen Großbank Credit Suisse zeigen, über ein gut funktionierendes nationales Geschäftsmodell. Dazu beigetragen hat die Neutralität, die immer auch eine Strategie des Sich-nützlich-Machens war. Wirtschaftlich richtete sich die Schweiz schon früh auf die Weltmärkte aus – mit einem weltumspannenden Rohstoff- und Transithandel, mit internationaler Vermögensverwaltung und einem leistungsfähigen industriellen Exportsektor. Doch innerhalb des Landes ging es nicht allen gut.

Die Schweiz ist also keine durchgehend erfolgreiche Wirtschaftsgeschichte?

Schon im 19. Jahrhundert gab es breite Bevölkerungsschichten, die hart arbeiteten, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Auswanderung und Massenarmut waren die Kehrseite der rasch vorankommenden Industrialisierung. In den Jahrzehnten um 1900 und dann wieder nach 1945 wurden Hunderttausende von Arbeitsmigranten unter unwürdigen Bedingungen beschäftigt. Und doch gelang es in der Schweiz, die widerstreitenden Strömungen in das politische System zu integrieren und eine Konkordanzdemokratie aufzubauen. Das brachte innere Stabilität, die dem Wirtschaftswachstum und speziell dem Finanzplatz zugutekamen. Resultat ist ein beträchtlicher Wohlstand. Wenn wir zeitlich zurückgehen: Im 17. Jahrhundert war der Dreißigjährige Krieg eine riesige Katastrophe für Europa. Für die schweizerische Eidgenossenschaft, die schon damals Neutralität praktizierte, bedeutete das einen strukturellen Vorteil. Sie profitierte vom Krieg der anderen.

Wie beurteilte man das Verhalten der Schweiz damals?

Grimmelshausen hat in seinem „Simplicissimus“ die Schweiz als ein „irdisch Paradies“ beschrieben. Als ein Land, in dem man seine Hühner draußen lassen kann, ohne dass sie jemand stiehlt. Und Chateaubriand hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesagt: Die Schweiz beteiligt sich an keinen Revolutionen, baut aber auf dem Elend der Völker eine Bank. Man könnte hier einen neidischen Blick von außen auf die Schweiz ausmachen.

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