Marokko II: Sternenhimmel statt Sprühkerzen

Auf dem Esel durch die Wüste
Auf dem Esel durch die WüsteCLAUDIA JÖRG-BROSCHE
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Das Königreich bietet sich als nahe, relativ warme und absolut Santa-Claus-freie Alternative an – und garantiert ein völlig anderes Christfest.

In Nemsa wird gerade die erste Kerze auf den Christbäumen entzündet und „Alle Jahre wieder“ angestimmt. Wir hingegen werden geschrubbt. Von Kopf bis Fuß, als ob wir uns noch nie im Leben gewaschen hätten. Die resolute Badefrau rubbelt uns buchstäblich die Haut vom Buckel. Ein Ritual, das vor großen Festen zwingend üblich ist. Allerdings nicht in Nemsa, wie Österreich auf Arabisch heißt, sondern in Marokko. Während bei uns Weihnachten gefeiert wird, unterziehen wir uns einer Waschung in einem orientalischen Hamam in Marrakesch. Wir hofften, in Marokko eine Santa-Claus-freie Zone zu finden.

Schon in der Vorweihnachtszeit gibt es Sandburgen statt Lebkuchen: In viereinhalb Stunden kurvt der öffentliche Bus von Marrakesch über den Hohen Atlas in die Wüstenstadt Ouarzazate. Die Erde schillert von Ockerbraun über Dunkelrot bis Violett, die junge Vegetation entlang der Flussläufe glüht giftgrün, die frisch verschneiten 3000er- und 4000er-Gipfel strahlen – der Schnee neben der halsbrecherischen Straße ist das Einzige, was an Weihnachten erinnern könnte. Tut er aber nicht, die Reize sind stärker. Und schon eine Stunde später sind wir in der Wüste.

Durch die Gassen der Kasbah Ait Benhaddou treibt der kühle Morgenwind einen Zeitungsfetzen, erst gegen Mittag wird die Sonne so richtig aufdrehen. Obwohl diese mächtige, aus gestampftem Lehm erbaute Wüstenfestung als Unesco-Weltkulturerbe eines der meistbesuchten Touristenziele Marokkos ist, herrscht vor Weihnachten gottvolle Ruhe. Tote Saison. Der Kasbah-Komplex sieht wie eine überdimensionierte Sandburg aus, die ein verspielter Riese aus Lehm und Stroh gebacken hat, aus. Der einstige Handelsstützpunkt auf der Karawanenstraße zwischen Timbuktu und Marrakesch geht aufs 12. Jahrhundert zurück. Stellenweise zerbröselt sie zu genau dem Material, aus dem sie errichtet wurde: Wüstensand.

Das Faszinosum Wüste erschließt sich am besten weit draußen in der Einsamkeit. Hassan Mrani, Hotelier in der Wüstenstadt Ouarzazate, die als „Hollywood Marokkos“ eines der wichtigsten Filmzentren Afrikas ist, führt mit seinem Pick-up immer tiefer in die Sahara. Wir landen in der bizarren Kulisse des Films „Star Wars“. In der winzigen Oase Tiguirt im Vallée de Fint betreibt Hassan gemeinsam mit der Berberfamilie von Mohamed Abbar ein mehrfach preisgekröntes, nachhaltiges Tourismusprojekt: die Ecolodge Ouednoujoum – wörtlich: Sternental – mit original Berberzelten aus schwarzer Kamelwolle für die Gäste.

Zur Begrüßung gibt's Minztee, Herzlichkeit und diverse Aktivitätsangebote: Reiten auf Pferden oder Kamelen, Wüstentrekking, Mithilfe am Feld, Kochkurs... Wir entscheiden uns für „Wüstentherapie“, weil's so kurios klingt, und erklimmen dafür die Felswand hinter den Zelten. Auf einem breiten Felsvorsprung vor grandiosem Panorama lassen wir zunächst die Atmosphäre des Ortes auf uns wirken. Dann sollen wir unsere innersten Sehnsüchte, Wünsche oder Ängste in die makellose Stille der Wüste schreien. Die Felswände geben unser Geplärr als verzerrtes Echo wider. Blöde Touristen-Bespaßung? Wie auch immer, hier stören wir zumindest niemanden.

Die Dunkelheit fällt wie ein schwarzer Vorhang, gemeinsam mit Mohameds Familie bereiten wir am offenen Feuer das Abendessen zu: Fladenbrot und eine Tajine, Eintopf mit Ziegenfleisch und Gemüse. „Ziehen Sie sich warm an und legen Sie sich vor dem Schlafen draußen unter die Sterne“, empfiehlt Mohamed und zieht sich dezent zurück. Eine wundervolle Nacht beginnt, mitten in der Wüsteneinsamkeit, geborgen im orientalischen Flair bunter Berberteppiche, silberner Teekannen, bauchiger Tonkrüge und flammender Fackeln – notfalls ist Mohamed in Rufdistanz. Die schwarzen Wollzelte speichern die Sonnenwärme des Tages über viele Stunden. Innen ist es angenehm warm, draußen hingegen klirrend kalt. Knapp nach Mitternacht verschwindet der Mond hinter den Bergen, in Pullover und Anoraks verpackt liegen wir auf dem Rücken im Sand, den Blick auf den grandiosen Sternenhimmel gerichtet – der perfekte Ort für eine Nacht im Advent, noch besser für den 31. Dezember, keine Böller, nur Stille und Säuseln des Windes.

Anderntags steigt doch wieder die Sonne hinter den Bergen empor. Wir pflanzen als Abschiedsritual ein Olivenbäumchen und reisen zurück nach Marrakesch. Welch himmelschreiender Kontrast zur Wüste, das hektische Gewimmel des pulsierenden orientalischen Alltags im engen Gassengewirr der Medina, der Altstadt. Händler schreien, Radios plärren, Mopeds knattern, die Luft ist von Abgasen und dem Rauch der mobilen Straßenküchen geschwängert, Menschenmassen schieben sich durch das enge Gassenlabyrinth. Zeit für die turbulenten Souks, die Märkte: Spät, aber doch müssen auch wir unsere Weihnachtseinkäufe erledigen. Auf orientalischen Märkten macht shoppen noch Spaß – Keramik, Berbermützen, Filzpatschen, Seidentücher, eine Stehlampe, bunte Laternen, Silberschmuck, Babouche-Schuhe, Ledertaschen, Gürtel, Gewürze und einen ausgewachsenen Teppich! Wie sollen wir das alles nach Hause bringen? Eine riesige Korbtasche muss auch noch her. Die ausgegebene Summe ist unterm Strich erstaunlich klein – wir aber sind vom ständigen Feilschen völlig erledigt.

Happy Birthday

Das übliche Touristen-Sightseeing-Programm der Folgetage ist dagegen reinstes Vergnügen: märchenhafte orientalische Pracht, formvollendete Kalligrafie, verspielte Ornamentik, himmlische Innenhöfe und leise plätschernde Springbrunnen verbergen sich hinter den dicken Mauern der Riads, den Stadtpalais, den Medresen (Koranschulen) und Moscheen. Nach außen hin gibt sich die Medina dreckig, laut und abweisend, erst in ihrem Inneren offenbart sie ihre Schönheit.

Die Medina Marrakeschs prostituiert sich nicht für Touristen, die zu den Feiertagen hin immer zahlreicher eintrudeln. Kein einziger Santa Claus läuft uns über den Weg, kein „Jingle Bells“ ertönt. Nur in manchem Touristenrestaurant findet man kitschige Plastikchristbäume oder Weihnachtsschmuck.

Am Heiligen Abend zieht es uns auf den berühmten Djemaa el Fna, den Platz der Plätze der afroarabischen Welt: Hier präsentieren sich alle Kulturen Marokkos in einer grandiosen Inszenierung, es tummeln sich Märchenerzähler, Schlangenbeschwörer, Feuerschlucker, Tattoo-Künstler, Wahrsagerinnen, Musikanten, Affen in Pampers, Orangensaft- und Dattelverkäufer. Jeden Tag werden aufs Neue Bänke und Garküchen aufgestellt, Touristen wie Einheimische sitzen eng an eng und genießen zu Spottpreisen. Heute soll Weihnachten sein? Hier nicht! Oder doch? Mitten im Getümmel finden wir einen Handkarren, prall beladen mit süßen Köstlichkeiten und Keksen. Der offenbar geschäftstüchtige Verkäufer lockt seine Kunden mit einem großen, goldenen Schriftzug an. Die glitzernde Partygirlande über seine Ware verkündet: „Happy Birthday!“ Irgendwie hat er damit auch nicht ganz unrecht.

LOGIEREN IN STILLEN STADTPALAIS, SHOPPEN IN DEN TURBULENTEN SOUKS

Wohnen. Wer das wahre Marrakesch erleben will, muss in einem der stilvollen Riads in der Medina (Altstadt) absteigen, in Stadtpalästen mit herrlichen Innenhöfen. Diese Oasen der Ruhe in der turbulenten Altstadt werden immer beliebter, mittlerweile sind es 1800 offiziell registrierte allein in der Medina Marrakeschs. Sie haben selten mehr als zehn Zimmer und genügen Ansprüchen von Low Budget bis Superluxus. marrakech-riads.com, maisondhotesmaroc.com

Riad Kniza, Marrakesch. Ein Märchen aus 1001 Nacht: wundervolles Luxus-Riad in der nördlichen Medina. Stilvoll renovierter Palast aus dem 18. Jahrhundert mit üppiger Ornamentik, stillen Innenhöfen, Springbrunnen und einer Dachterrasse, auf der in der warmen Dezembersonne mit Blick auf den verschneiten Hohen Atlas gefrühstückt wird. Innenpool, Sauna, Edel-Hamam; elf Zimmer und Suiten (DZ 176 bis 239€ für zwei Personen, Suiten 295 bis 450€ für bis vier Personen, jeweils mit Frühstück) und eines der besten Restaurants der Stadt. riadkniza.com

Die Autorin wurde bei den Übernachtungen vom Riad Kniza und von Valeur-Sud unterstützt.

Hotel Al Baraka, Ouarzazate. Preiswertes, neues Dreisternehotel im Kasbah-Stil am Rand von Ouarzazate. Pool, DZ/F ab ca. 40€ p. P. Hotelier Hassan Mrani gehört auch die Ecolodge Ouednoujoum in der Oase Tiguirt südlich von Ouarzazate. Edel-Biwak in original Berberzelten; nachhaltiger Tourismus; eine Nacht im Berberzelt mit Transfer ab Ouarzazate und HP 75€ p. P. (ein Teil davon geht ans Dorf und an Mohamed Abbars Familie) valeur-sud.com; colodge-ouednoujoum.com

Anreise: Wien–Marrakesch u. a. mit Swiss sowie mit Royal Air Maroc über München; swiss.com; royalairmaroc.com Pauschal: u. a. mit Dertour (dertour.at)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2013)

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