Zwölfjähriger über zwei Wochen in U-Haft?

APA/HERBERT NEUBAUER
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Justiz: Verwirrspiel um jungen Verdächtigen: Richter und Staatsanwalt schätzten sein Alter unterschiedlich ein.

Wien. Wie alt ist der Bub, der am Freitag in Wien am Landesgericht für Strafsachen auf der Anklagebank saß? Zwölf, 13, 14 oder gar 16?Jahre? Eine schwierige Frage. Vor allem, wenn es keine Ausweispapier gibt. Der Bub behauptet, er sei zwölf. Damit wäre in Österreich ein strafunmündiges Kind zwei Wochen illegal in Untersuchungshaft genommen worden. Der Richter jedenfalls glaubt dem Buben. Der Staatsanwalt dagegen nicht. Er meint, dass der Bub Mitglied eines rund 70 Mitglieder umfassenden Bandennetzwerks ist, das europaweit agiert. Seine Fingerabdrücke seien in Zusammenhang mit zwei Fällen in Belgien gesammelt worden: „Damals hat er sein Geburtsjahr mit 1999 angegeben", so Staatsanwaltssprecher Gerhard Jarosch.

Zur Vorgeschichte: Der nur 1,55 Meter große, schmächtige Bub musste sich vor Gericht verantworten, weil er seit vergangenem November in Wien gewerbsmäßig und als Teil einer kriminellen Vereinigung etwa 25?Personen - vorwiegend Touristen - bestohlen haben soll. Der Junge, der aus einer bosnischen Roma-Familie stammen soll, war am 22. Jänner festgenommen worden. Während der Bursch sein Geburtsdatum mit 31. März 2001 angab (zwölf Jahre alt), hielt ihn ein Amtsarzt bei einer routinemäßig durchgeführten Untersuchung aber für jedenfalls 14-, wahrscheinlich sogar 16- bis 18-jährig. Anders formuliert: Der Bursche soll bei seinem Alter gelogen haben. Die Staatsanwaltschaft glaubte dem Amtsarzt und brachte auf dieser Basis einen Strafantrag ein. Der Junge wurde in U-Haft genommen und musste 16 Tage im Gefängnis verweilen.

Gestern, Freitag, dann der Knalleffekt bei der Verhandlung. Richter Andreas Hautz ließ den Buben gehen. Er hielt ihn im Zweifel für minderjährig, damit ist gesetzlich keine Strafverfolgung möglich. „Das Alter des Angeklagten sei nicht eindeutig feststellbar", so Hautz. Seiner Entscheidung lag ein zahnärztliches Gutachten zugrunde. Sachverständige Martina Gredler hatte festgestellt, dass einige Zähne im Unterkiefer noch nicht ganz durchgebrochen seien. Ihr Fazit: „Es spricht alles dafür, dass er um die 14 Jahre alt ist. Eine eindeutige Festlegung, ob er über oder unter 14 ist, kann nicht getroffen werden." Bei der Einschätzung des wahren Alters gebe es „eine relativ große Bandbreite von plus minus einem Jahr". Der Richter sah dadurch die Strafunmündigkeit im Zweifel gegeben. In Freiheit kam der - angeblich - Zwölfjährige trotzdem vorerst nicht. Denn Staatsanwalt Jörgen Santin legte einerseits Berufung ein. Andererseits verwies er auf eine bestehende Festnahmeanordnung. Gegen den Buben war eine Nachtragsanzeige eingegangen, in der ihm weitere, von der heutigen Verhandlung nicht umfasste Diebstähle angekreidet wurden.

Der Bursch wurde daher von der Justizanstalt (JA) Wien-Josefstadt auf ein Kommissariat gebracht und zu den noch offenen Diebstählen befragt. Danach wurde er der Drehscheibe, einer Wohngruppe der Stadt Wien für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, übergeben. Theoretisch hätte er auch wieder (wegen des zweiten Ermittlungsverfahrens) in U-Haft gebracht werden können. „Weil es Zweifel über sein Alter gibt", wollte man das jedoch nicht, sagt Jarosch.

In der Verhandlung soll der zuständige Staatsanwalt noch vehement versucht haben, dem Buben nachzuweisen, dass er das 14. Lebensjahr vollendet hat. Dafür wollte er von einem Sachverständigen eine vollständige Untersuchung, bei der auch die Geschlechtsorgane des Buben untersucht werden sollten. Die wies der Richter mit den Worten „Jetzt wird's lächerlich" ab. Auch wollte der Richter eine Untersuchung des linken Handwurzelknochens mittels Magnetresonanztomografie nicht gelten lassen. Weil auch damit das Alter des Jungen nicht eindeutig bestimmt werden könne. Hat das Gericht mit Verhängung der U-Haft also einen Fehler begangen? Die eindeutige Bestimmung des Alters in so jungen Jahren ist nicht einfach, meint Richter Hautz zur „Presse": „Gerade in dem Alter gibt es kaum Methoden, die das eindeutig feststellen." Damit bliebe nur: Im Zweifel für den Beschuldigten.

Bub ist geflüchtet

Bei der Staatsanwaltschaft ist man weiterhin fest überzeugt, dass der Bub mindestens 14 Jahre alt, und somit strafmündig ist. Vor allem seit den Informationen aus Belgien.

Fest steht: Nachdem der Bub der Drehscheibe übergeben wurde, ist er sofort geflüchtet. „Er war nur vier Minuten bei uns, hat uns den Stinkefinger gezeigt und ist abgehauen", sagt Drehscheiben-Leiter Norbert Ceipek. Der Bub ist für ihn kein Unbekannter. Schon mehrmals sei er von der Polizei zu ihm gebracht worden. Er kennt ihn unter anderem Namen und unter anderem Alter: Geburtsjahr 1999, also strafmündig. Ceipek: „Der Junge ist sicher ein Opfer von Menschenhandel, und zu den Verbrechen wurde er gezwungen. Ich wünsche ihm kein Gefängnis. Aber wenn niemand die Hintergründe aufklärt, dann muss er weitermachen."

Anmerkung der Redaktion

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