Funktioniere nicht, atme!

Ariadne von Schirach
Ariadne von Schirach Die Presse
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Die Philosophin Ariadne von Schirach fordert ein Ende der Selbstoptimierung – und rät zum Pausemachen und Traurigsein. In der Krise empfiehlt sie die Lektüre von Seneca.

Sie kritisieren in Ihrem Buch „Du sollst nicht funktionieren“, dass die Gesellschaft durch ihren Konsum- und Selbstoptimierungswahn kaputt gemacht wird. Radikal gefragt: Ist es das Fehlen von existenziellen Problemen wie Krieg, das uns ermöglicht, so viel über das perfekte Leben nachzudenken?

Ariadne von Schirach: Selbstoptimierung ist ein Luxus, den man sich leisten können muss. Natürlich handelt es sich auch um Dekadenzphänomene. Die Energie, sich mit seiner Darstellung zu beschäftigen, kann ein Mensch, der im Krieg ist oder Hunger hat, nicht aufbringen. Wir sind trotz allen Gejammers privilegiert. Dadurch entsteht die perverse Situation, dass wir so viel haben wie noch nie und damit immer weniger anfangen können. Durch Selbstdisziplin und -optimierung und die Anhäufung materieller Güter glauben wir, Sicherheit zu erhalten. Dabei führen diese Kontrollversuche meist eher zu Nichtlebendigkeit als zu Lebensfreude.

Statt zu fragen „Wer bin ich?“ oder „Was will ich?“ sollte man einfach leben, schreiben Sie. Wie geht das, einfach leben?

Da muss ich genau werden: Ich sage, Fragen wie „Wer bin ich“ und „Was will ich“ kann der Mensch eigentlich nicht beantworten. Wenn er das einsieht, ist das eine große Befreiung. Stattdessen kann er sich fragen: Was kann ich nützen? Wie kann ich dienen? Und vor allem: Was brauche ich? Wenn man die Fragen anders stellt, kommt man zu einer anderen Perspektive.

Und wofür lohnt es sich zu leben?

Für die Freude und Notwendigkeit, selbst zu denken. Und für gelingende Beziehungen. Aber es ist sehr schwer, dazu etwas zu sagen, weil für die Menschen unterschiedliche Dinge bedeutungsvoll sind. Aber natürlich lohnt es sich zu leben für den Genuss, die Leidenschaft und die Anstrengung. Aber lassen wir das so abstrakt. Sobald man echte Antworten auf diese Fragen gibt, wird man zu einer Art Ratgeber, der anderen Leuten sagt, was sie denken sollen. Das will ich nicht.

Der Mensch pflegt heute viele Beziehungen über soziale Netzwerke. Gut oder schlecht?

Das Herz lässt sich nicht täuschen. Ein virtuelles Steak ist nicht so gut wie ein echtes Steak. Man wird nicht satt. Ich glaube, dass die Menschen den Unterschied zwischen echten und virtuellen Freundschaften kennen. Die Simulationen funktionieren eine gewisse Zeit. Aber sie können das Echte nicht ersetzen. Andererseits werden reale Beziehungen, wie die zu Freunden, die gerade reisen oder im Ausland leben, durch Facebook stabilisiert.

Wie leicht ist es, sich von dem natürlichen Streben nach Perfektion zu verabschieden?

Es geht doch erstmal um eine Ermunterung. Wir leben in einer Zeit voller Schuldgefühle. Es ist wichtig zu sagen: Du bist schon okay, es ist schön, dass du da bist, aber du hast auch Verantwortung. Wenn ich mir klarmache, dass meine Zeit auf der Erde begrenzt ist, ist Perfektion nicht mehr so wichtig.

Ich musste bei der Lektüre Ihres Buches an Melvilles Bartleby und sein Mantra: „Ich möchte lieber nicht“ denken. Haben Sie eine Figur aus der Literatur oder Philosophie, die Sie besonders schätzen?

Ich muss gestehen, dass ich eine Einkaufstasche habe, auf der steht: „I would prefer not to“. Sich in die Philosophie zu verlieben bedeutet auch, alte, tote Männer zu lieben. Dazu gehört etwa Seneca, der ist unfassbar unterhaltsam und gegenwärtig. Oder Sokrates. Ein großer Fan bin ich auch von Marc Aurel, der so viel strenger und edelmütiger war als alle Serienfiguren aus „Game of Thrones“ zusammengenommen. Obwohl ich das auch gern anschaue.

Stichwort „alte, tote Männer“. Hat die Philosophie heute genug weibliche Stimmen?

Es gab seit der Antike wichtige Denkerinnen wie Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Susan Sonntag. Und es gibt viele Theorien, warum es mehr bekannte Männer als Frauen in der Philosophie gibt. Wesentlich sinnvoller ist aber, darauf hinzuweisen, dass es jetzt viele interessante Philosophinnen gibt. Natalie Knapp, Svenja Flaßpöhler oder Eva Weber-Guskar etwa.

Der „Spiegel“ äußerte die Vermutung, dass das Nichtfunktionieren vielleicht auch nur ein neuer Trend sei?

Das sehe ich nicht so. Sonst könnte man sagen, Burn-out ist das Nichtfunktionieren des 21.Jahrhunderts. Ich wollte in den Raum stellen, dass es noch etwas anderes gibt als Selbstoptimierung. Es hilft, an das Atmen zu denken. Atmen ist eine Bewegung aus Aufrichten und Einsinken. Der Mensch muss sich aufrichten, sonst liegt er im Schlick seiner Eitelkeit, Dummheit und Gier. Und er muss ausatmen, einfach da sein, loslassen, traurig sein.

Ist das wie Yoga für das Sein?

Das ist kein Yoga. So sind wir. Wir atmen. Wir spannen an, wir lassen los. In dieser ständigen Selbstoptimierung scheint es langsam keinen Bruch mehr zu geben. Der Mensch hat keine Pausen mehr oder Momente, in denen er nicht gut aussieht, er hält nicht mehr inne, verweilt nicht. Er ist ein strebsames, kleines Unternehmen, erfolgreich, geschniegelt und mit straffem Hintern. Darin kann sich kein lebendiger Mensch wiederfinden.

Sie schreiben kleine Gedichte auf Twitter über das Wetter. Steht das in einem Zusammenhang mit Ihrer Theorie?

Da gibt es gar keine Verbindung. Die Aufgabe eines Philosophen ist, Fragen zu stellen. Aber sich selbst mit der Antwort zu verwechseln, ist sehr blöd. Ich bin nicht das Aushängeschild meiner eigenen Theorie. Vor Jahren unterhielt ich mich mit jemandem darüber, ob auf Twitter Kunst stattfinden kann. Danach habe ich begonnen, kleine Gedichte über das aktuelle Berliner Wetter zu schreiben. Das erfreut mich, das ist ein kleines Public Service. Ich mag das Internet. Und mache durch Twitter auch die Erfahrung, dass die sozialen Medien mein Leben bereichern.

Steckbrief

Ariadne von Schirach * 1978 in München, ist Philosophin und Autorin. Tochter des Autors Richard und Enkelin des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Der Autor Benedict Wells ist ihr Bruder, Strafverteidiger Ferdinand von Schirach ihr Cousin.

2007 erschien „Tanz um die Lust“. Im Sommersemester 2014 lehrt sie an der Univ. der Künste in Berlin über „Die Liebe und das Schöne“.

Das Buch

Ariadne von Schirach „Du sollst nicht funktionieren – für eine neue Lebenskunst“

Tropen Verlag
185 Seiten

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2014)

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