Der ökonomische Blick

Steckt der demokratische Kapitalismus in einer Krise?

Eine Einkaufsstraße in London. In seinem aktuellsten Buch beantwortet der britische Publizist Martin Wolf die Frage, ob und wie ‚Marktkapitalismus‘ mit dem System einer liberalen Demokratie kompatibel ist. 
Eine Einkaufsstraße in London. In seinem aktuellsten Buch beantwortet der britische Publizist Martin Wolf die Frage, ob und wie ‚Marktkapitalismus‘ mit dem System einer liberalen Demokratie kompatibel ist. Imago / Tayfun Salci
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Liberale Demokratien und ‚Marktkapitalismus‘ bedingen sich gegenseitig, aber aktuell gerät das Gleichgewicht aus den Fugen, warnt der britische Wirtschaftsjournalist Martin Wolf.

Martin Wolf, einer der bekanntesten Wirtschaftsjournalisten weltweit, hat im heurigen Frühjahr ein Buch mit dem Titel „The Crisis of Democratic Capitalism“ publiziert. In diesem Buch geht es zentral um die Frage, ob und wie ‚Marktkapitalismus‘ mit dem System einer liberalen Demokratie kompatibel ist. Kurze Antwort: Sie bedingen sich gegenseitig, aber aktuell gerät das Gleichgewicht aus den Fugen, mit weitreichenden politischen sowie ökonomischen Konsequenzen.

Martin Wolf bemerkt in der Einleitung, dass beide Eltern aufgrund ihrer jüdischen Herkunft emigrieren mussten, sein Vater 1938 aus Wien, seine Mutter 1940 aus den Niederlanden. Beide emigrierten nach London, wo sie sich 1942 kennenlernten. Diese dramatischen familiären Erfahrungen mit der Machtergreifung durch Adolf Hitler und deren katastrophalen Folgen sind die Wurzel der großen Besorgnis von Martin Wolf hinsichtlich der aktuellen ökonomischen wie politischen Entwicklungen.

Was ist „Der ökonomische Blick“?

Jede Woche gestaltet die Nationalökonomische Gesellschaft (NOeG) in Kooperation mit der „Presse“ einen Blogbeitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften. Dieser Beitrag ist auch Teil des Defacto Blogs der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Central European University (CEU). Die CEU ist seit 2019 in Wien ansässig.

Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der „Presse“-Redaktion entsprechen.

„Rentierkapitalismus“ im Zentrum der Kritik

Wolf untergliedert sein Buch in vier Teile. Zu Beginn schildert er die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft sowie die damit verbundene Entwicklung der parlamentarischen Demokratie über die letzten beiden Jahrhunderte. Dabei stellt Wolf dieser beiden Systeme als ‚symbiotische Beziehung‘ mit einer starken gegenseitigen Abhängigkeit dar. Im zweiten Teil beschreibt Wolf, was in dieser symbiotischen Entwicklung in den vergangen vier Jahrzehnten falsch gelaufen ist. Dabei steht vor allem die durch die Deregulierung der Finanzmärkte hervorgerufenen Entwicklung zu einem „Rentierkapitalismus“ im Mittelpunkt seiner Kritik. Wolf schreibt, dass die Finanzmärkte zunehmend weniger der produktiven Entwicklung unserer Ökonomien dienten, sondern vielmehr der Abschöpfung von Renten. Und er kritisiert, dass nach der Finanzkrise 2008 keine ausreichenden Konsequenzen gezogen wurden.

Dabei beschreibt Wolf sehr einprägsam die große Macht, die die wirtschaftliche (Finanz-)Elite auf die politische Ebene hinsichtlich Marktregulierung bekommen hat. Wolf resümiert dabei mit den Gedanken von Adam Smith: „Above all, a good part of what has gone wrong is what Adam Smith warned us against – the tendency of the powerful to rig the economic and political systems against the rest of society.” Diese Entwicklungen, so Wolf, hätten die Verteilungsprobleme verschärft und auf der gesellschaftlichen Ebene zu großer Unzufriedenheit geführt. Und Populisten wie Donald Trump oder Boris Johnson konnten diese Unzufriedenheit perfekt bedienen.

Verflechtungen der Elite gefährden Marktwirtschaft und Politik

Im dritten Teil werden Vorschläge gemacht, wie diesen Entwicklungen entgegengewirkt werden könnte. Der wichtigste Teil befindet sich dabei in dem Kapitel „Ending Special Privileges for the Few“. Dabei werden zentrale wirtschaftspolitische Fragen wie Steuergerechtigkeit, monopolistische Märkte, mangelnde Transparenz, Korruption sowie die Bedeutung der Digitalwirtschaft besprochen. Für Wolf ist dabei die enge Verflechtung der ökonomischen mit der politischen Elite der zentrale Kritikpunkt, denn diese Privilegien, so Wolf, zerstören beides: die Marktwirtschaft sowie die Politik.

Aber wie kann diese enge Verflechtung von Ökonomie und Politik gebrochen werden? Wolf bringt dazu im vierten Teil den Begriff „restoring citizenship“ ins Spiel. Dabei meint Wolf, dass für alle zentralen ökonomischen wie politischen Akteure die gesellschaftliche Sichtweise gegenüber der rein individualistischen wieder an Bedeutung gewinnen müsse. „Above all, they (members of a functioning elite, which includes the business elite) need to feel responsible for the welfare of their republic and its citizens.”

Mehr Transparenz notwendig

So spannend und faszinierend auch die Analyse von Wolf hinsichtlich der Verflechtung von Ökonomie und Politik ist, so fraglich bleibt demgegenüber dieses letzte Kapitel. Da nicht zu erwarten ist, dass die ökonomische Elite ihre über die letzten Jahrzehnte aufgebauten Privilegien durch moralische Appelle freiwillig abtreten wird, wird eine entsprechende Änderung dieser Verquickung wohl nur durch umfangreiche gesetzliche Maßnahmen bewirkt werden können. Diese Maßnahmen werden aber nicht nur im steuerlichen Bereich ansetzen müssen, sondern auch in der Ordnungspolitik, insbesondere im Bereich der Wettbewerbspolitik sowie hinsichtlich Transparenz von politischen Entscheidungen.

Es ist höchst bemerkenswert, dass Martin Wolf auf der Basis seines umfangreichen Insiderwissens und seiner zahlreichen Freundschaften in die höchsten Ebenen der Finanzwelt und der Politik die Privilegien der ökonomisch Mächtigen so erhellend darstellt. Innerhalb der ökonomischen Wissenschaft sind derartige Analysen nur selten anzutreffen[1]. Wenngleich sich Wolfs Buch vorwiegend mit den USA sowie Großbritannien befasst, so können seine Schlussfolgerungen generell auf alle markt-kapitalistischen Wirtschaftssysteme umgelegt werden. Auch in Österreich finden sich dazu in der jüngeren Geschichte mehr als ausreichend Belege dafür.

Wolf hat die dramatischen Ereignisse der Weltwirtschaftskrise 1928/29 sowie deren katastrophalen politischen Folgewirkungen in seiner Familie hautnah miterlebt. Insofern ist seine Analyse über die aktuellen Entwicklungen besonders glaubwürdig. In diesem Sinne ist das Buch eine lohnenswerte und aufklärerische Lektüre sowie eine eindringliche Mahnung an alle, die eine demokratische Gesellschaft aufrechterhalten wollen.

Der Autor

Wilfried Altzinger ist Ökonom und Co-Leiter des Forschungsinstitutes „Economic of Inequality“ an der WU Wien.

Sonja Spitzer

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