Gastkommentar

Kann die Schweiz neutral bleiben?

Der Krieg gegen die Ukraine löst auch in der Schweiz eine Neutralitätsdebatte aus. Eine Änderung ist nicht in Sicht.

Die Schweiz feiert heuer ihr 175-jähriges Bestehen als moderner Staat: Am 12. September 1848 wurde die Bundesverfassung verabschiedet. Ein Kernelement der Schweizer Identität ist aber nicht die Verfassung selbst, sondern die Neutralität. Gerade diese steht nun zur Diskussion: Welche neutrale Position kann und soll die Schweiz angesichts des Ukraine-Krieges einnehmen?

Während „eine immerwährende Neutralität“ in Österreich verfassungsrechtlich festgelegt ist, ist die Neutralität in der Schweizerischen Bundesverfassung explizit nicht definiert. Es wird „bloß“ festgehalten, dass die Bundesversammlung (das Parlament) bzw. der Bundesrat (die Bundesregierung) die „Massnahmen zur Wahrung […] der Neutralität der Schweiz“ zu treffen hat. Was aber unter der zu schützenden Neutralität zu verstehen ist, lässt sich unterschiedlich auslegen.

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Die Schweiz verschrieb sich lang dem Konzept der sogenannten „integralen Neutralität“, nach dem sogar die Beteiligung an Wirtschaftssanktionen als Verletzung der Neutralität gälte. Nachdem Russland die Ukraine im Feber 2022 angegriffen hatte, schloss sich aber auch die Schweiz den Sanktionen der EU an, womit sie zu einer „differenziellen Neutralität“ zurückkehrte, wie es zwischen 1920 und 1938 bereits der Fall war.

Mögliche Lieferungen von Schweizer Waffen und Munition in die Ukraine werden aber von Bern weiterhin untersagt – mit Hinweis auf die Neutralität und das Kriegsmaterialgesetz. Eine Gesetzesänderung wurde zwar im Frühjahr 2023 parlamentarisch vorbereitet, aber die Mehrheit des Nationalrates stimmte dagegen. Im September 2023 wurde ein weiterer legislativer Versuch unternommen: Nach diesem solle der Bundesrat (die Bundesregierung) mehr Spielraum in der Waffenlieferungsfrage erhalten, womit aber – so die Kritik etwa aus den Reihen der Sozialistischen Partei – nicht nur die Neutralität, sondern auch die demokratische Kontrolle umgegangen wäre.

Umdenken jetzt?

In die gegenwärtige Debatte führte Ignazio Cassis, der frühere, freisinnige Bundespräsident, den Begriff „kooperative Neutralität“ ein: Die Schweiz sei zwar staats- und völkerrechtlich neutral, aber nicht wertneutral-wertrelativistisch.

Cassis’ Vorschläge regten eine lebhafte Diskussion an. Sanija Ameti, die Co-Präsidentin der linksliberalen Bewegung Operation Libero meinte etwa in der Tageszeitung „Blick“, dass „die [Schweizer] Neutralität nicht frei, sondern feige [macht]“. Liberale und konservative Politiker dachten sogar über eine Annäherung der Schweiz an die Nato nach. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung würde eine gewisse Zusammenarbeit mit der Nato (ohne Mitgliedschaft) befürworten.

Während die Politik über Neutralität und Waffenlieferung debattiert, wurde auch eine Volksabstimmung initiiert, welche eine sehr eng gefasste Neutralität in der Bundesverfassung verankern würde, um jegliche auch nicht militärische Parteinahme in einem kriegerischen Konflikt auszuschließen. Kommen die nötigen 100.000 Unterschriften bis Mai 2024 zusammen, kann das Schweizer Wahlvolk über die Art und Weise der Neutralität abstimmen.

Eine allzu schnelle Änderung in der Neutralitätsfrage ist jedenfalls kaum zu erwarten. Die Langsamkeit ist vielleicht das zweitwichtigste Element der Schweizer Politik neben der Neutralität – oder wie der freisinnige Politiker, Florian Gengel 1864 schrieb: „So schnell, so abwechselnd regiert es nicht mit dem [Schweizer] Volke“.

Péter Techet ist promovierter Jurist und Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) und Habilitand an der Universität Zürich.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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