Die Ich-Pleite

Ein alter weißer Mann, nur eben eine Frau

Carolina Frank
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Gerade war man noch Avantgarde, also zuvorderst, schon ist man hintennach, also das Letzte.

Wäre ich ein alter weißer Mann, würde ich zum Thema Gendern nichts sagen. Meine Meinung, ob ich für das Binnen-I bin oder für das Gendersternchen, den Doppelpunkt oder den Unterstrich, wäre nicht gefragt. Ich wäre auch nicht so ignorant, das nicht zu wissen, weil ich eben heimlich doch ein bisschen woke wäre. Da der Begriff „alter weißer Mann“ aber dreiteilig ist und ich immer schlecht in Mathematik war, kann ich berechnen, dass auch ich zu zwei Dritteln ein „alter weißer Mann“ bin.

Auch als Frau sollte ich mich des Themas also zwecks Shitstormvermeidung lieber nicht bemächtigen. Früher konnte man sich ja für eine Feministin halten (und dafür von den jungen weißen Männern verhöhnen lassen), ohne viel über das Gendern nachzudenken. ­

Die meisten von uns konnten, was die Zahl der Geschlechter betraf, nur bis zwei zählen. Und kämpfen wollten wir in erster Linie dafür, dass Frauen die gleichen Rechte und Chancen haben wie Männer. Zum Beispiel am Arbeitsplatz. Gleiche Bezahlung. Oder bei der Kinderbetreuung. In dieser alten Zeit habe ich in einem Frauenkultur­zentrum gearbeitet, zu dem nur Frauen Zugang hatten. Männer, die sich als Frauen fühlten, haben wir beinhart rausgeschmissen. Heute schaut man mit so einer Geschichte ganz schön alt aus. So schnell ändern sich die Zeiten. Gerade war man noch Avantgarde, also zuvorderst, schon ist man hintennach, also das Letzte.

Das Einzige, was einen als alter weißer Mann weiblicher Ausprägung trösten kann: Es wird sich auch die neueste letzte Generation mit einer noch neueren, noch letzteren Generation konfrontiert sehen. Und womöglich wird es dann immer noch die weise Redewendung geben: „Die werden auch noch in meine Gasse kommen.“ 

(Die Presse Schaufenster, 22.9.2023)

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