Nach dem Mauerfall

Ein Podcast über Ostdeutschland: „Neonazis waren cool“

Springerstiefel wurden in der DDR von Neonazis getragen, aber auch von Punks.
Springerstiefel wurden in der DDR von Neonazis getragen, aber auch von Punks.APA/A3430 Bernd Thissen
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Auf einmal ist die Mauer weg. Was mit einem Fest beginnt, mündet in Unsicherheit – für junge Menschen und ihre Nachkommen. Im Podcast „Springerstiefel – Punk oder Fascho“ suchen zwei Ostdeutsche Antworten auf Fragen, die sich ihnen erst mit zunehmendem Alter gestellt haben.

Eurodance verbinden junge Studierende in Wien wohl hauptsächlich mit trashigen Partys und dem nächsten Shot. Nicht aber Christian. Geboren in der DDR, war er neun Jahre alt, als die Mauer fiel. Eurodance hörte er damals zum ersten Mal, es war Musik aus dem Westen. Neu, aufregend und „mega“. Retrospektiv auch „reizüberflutend“, wie der Umbruch allgemein.

Dieser Umbruch ist Ausgangspunkt des Doku-Podcasts „Springerstiefel – Punk oder Fascho?“, über den, den beiden Hosts zufolge, viel zu lang viel zu wenig gesprochen wurde. Die Hosts, das sind zwei junge Männer, beide ostdeutsch: Hendrik Bolz und Don Pablo Mulemba, Letzteren kennen junge Podcast-Ohren womöglich vom Format „Fomo – Was habe ich heute verpasst?“. In gemeinsamer Sache widmen sie sich Fragen, die sie lange Zeit selbst nicht hatten. Geboren 1988 in Leipzig hat Bolz den Mauerfall als nur Einjähriger miterlebt, nicht bewusst also. Das Aufwachsen hingegen war geprägt von den Folgen eines gewaltigen Systemumbruchs. „Mir war lange nicht klar, dass die Welt, die ich als kleines Kind im Osten kennengelernt habe, eigentlich eine Welt im Ausnahmezustand war“, eröffnet Bolz die erste Folge. Gemeint sind schließende Betriebe, arbeitslose Eltern, fortziehende Freunde.

Neonazis oder Punks?

Gemeint sind aber auch diametral gegensätzliche Jugendszenen: Punks und Neonazis. Letztere waren in Bolz’ Umfeld die angesagteste Subkultur, erinnert er sich. „Neonazis waren … cool“, heißt es in der ersten Folge, wirkungsvolle Pause inklusive. Der Weg in die Szene sei kein weiter gewesen, Vorbilder und kulturelle Angebote habe es zuhauf gegeben. Jugendklubs fungierten als Radikalisierungsräume, Christian – eingangs bereits vorgestellt – bejaht das (Folgen 1, 4 und 5). Als ehemaliger Neonazi erzählt er von einstigen Dynamiken in Stralsund. Ein Punk-Dasein wäre damals die nächste Alternative gewesen, der Gruppenzwang habe das aber schlichtweg nicht hergegeben, wie er sagt. Erst kam die Musik, die Mode (Domestos-Hose, Bomberjacke, Springerstiefel), dann die politische Gesinnung. Nicht immer klingt das Gesagte aus Christians Mund reflektiert, nicht jede Antwort ist zufriedenstellend. Da haben sich die Hosts zu viel erhofft, was man sich in der letzten Episode dann auch eingesteht. Doch die Dialoge wirken dadurch echt, wenn auch gruselig.

Ihm gegenüber steht Silke (Folgen 2 und 5). Ihre Jugend in der DDR hat sie als Punk verbracht, dort immer wieder gegen Neonazis angekämpft – mit allen möglichen Mitteln, wie sie erzählt. Sie spricht von abwesenden Eltern, die inmitten der unsicheren Zeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen seien, um ihren Kindern den Weg zu weisen. Die Subkulturen – ob rechts oder links, sei dahingestellt – dienten als Anknüpfungspunkt abseits der Familie. Man habe einander großgezogen.

Schwarz und in Ostdeutschland

Eine der erzählten Geschichten (Folgen 3, 4 und 5) ist besonders persönlich. Es ist die der Eltern von Don Pablo Mulemba und damit die einer jungen schwarzen Familie im damaligen Osten Deutschlands. Es ist auch eine Geschichte, die kaum irgendwo erzählt wird. Die Frage der Subkultur stellte sich nicht, vielmehr ging es darum, für die eigene Familie ein sicheres Umfeld zu schaffen, inmitten einer weißen Mehrheitsgesellschaft mit großer rechtsextremer Bubble. Mulembas Mutter erzählt von vollurinierten Kinderwagen im Mehrparteien-Stiegenhaus, von Beschimpfungen auf öffentlicher Straße, auch von der Angst, wenn bewaffnete Neonazis plötzlich vor der eigenen Türe stehen. Von der Unsicherheit der Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, wie es Mulembas Vater war. Aus Angola ist er in die DDR gekommen, auf der Grundlage falscher Versprechen.

Es geht um den Mord an Amadeu Antonio Kiowa im Jahr 1990, einem aus Angola stammenden Vertragsarbeiter. Neun Wochen nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde er von Neonazis brutal zusammengeschlagen, zwei Wochen später starb er an den Verletzungen. Es geht um die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen gegen Geflüchtete 1992 und um deren (emotionale) Folgen für nicht weiße Menschen. In den fünf Podcast-Folgen geht man auf Spurensuche und dorthin, wo es sehr wahrscheinlich wehtut.

Wer ausweicht, wird entlarvt

Erzählt werden schreckliche Geschichten, ohne die Ereignisse hochzuspielen. Gewalt und Gegengewalt werden hinterfragt, ebenso wie der Umgang der Bundespolitik damit. Um das Gesagte der Protagonistinnen und Protagonisten – Christian, Silke und Mulembas Eltern – einzuordnen, meldet sich zwischen Interviewschnipseln immer wieder einer der beiden Hosts zu Wort. Man gibt Kontext, erklärt wird etwa der Weg von Vertragsarbeitern in die DDR oder der wesentliche Unterschied zwischen Skinheads und Neonazis. Aussagen der Befragten werden in einen größeren Zusammenhang gesetzt, zusammengefasst und kommentiert. Ausweichende Antworten werden so entlarvt, stets wird nachgehakt, insbesondere im Gespräch mit Christian, dem ehemaligen Neonazi.

Der Podcast nimmt einzelne Biografien von Menschen im damaligen Osten Deutschlands unter die Lupe, Menschen, deren Leben 1989/90 einmal komplett auf den Kopf gestellt wurde. Einen genaueren Blick in den Alltag der DDR und der Nachwendezeit hat auch die „Zeit“ schon in einem Podcast gewagt. Mit dem NDR und ACB Stories, einem Podcast-Studio in Berlin, haben Mulemba und Bolz den Inhalt nun für ein jüngeres Publikum aufbereitet – aber nicht nur.

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