Literatur

Daniel Kehlmann: „Dass ich meinen Sohn zwei Wochen hätte einsperren sollen, schockiert mich noch heute“

„Heute kann man wieder mit jedem darüber reden, dass es auch völlig überzogene Corona-Maßnahmen gab. Wer dasselbe 2020 sagte, wurde unendlich beschimpft.“
„Heute kann man wieder mit jedem darüber reden, dass es auch völlig überzogene Corona-Maßnahmen gab. Wer dasselbe 2020 sagte, wurde unendlich beschimpft.“Heike Steinweg
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Der Autor über seinen Roman, „Lichtspiel“, eine schreckliche Begegnung mit österreichischen Behörden 2020, die ungeheure Neigung zur Überreaktion in Krisen wie Corona oder Israel-Krieg und die Frage: Wie viele moralische Kompromisse rechtfertigt große Kunst?

Der sagenhafte Erfolg seines Romans „Die Vermessung der Welt“ hat den 1975 geborenen deutsch-österreichischen Autor Daniel Kehlmann vor fast 20 Jahren zum internationalen Literaturstar gemacht. In seinem neuen Roman, „Lichtspiel“, den er am heutigen Sonntag um 15 Uhr im Theater in der Josefstadt präsentiert, unternimmt er nun eine Vermessung der Kollaboration wider Willen: der Räume zwischen Verweigern und Mitmachen, in die ein Künstler tappt, der seine Kunst nicht ohne die Hilfe Reicher und Mächtiger ausüben kann. „Lichtspiel“ ist eines seiner besten Bücher geworden, glänzend durchkomponiert und tief berührend. Es erzählt vom großen österreichischen Filmemacher Georg Wilhelm Pabst, der, schon im Exil gewesen, kurz nach dem „Anschluss“ 1938 wegen seiner kranken Mutter nach Österreich zurückkehrt, dort hängen bleibt und, obwohl Nazigegner, Teil der Filmindustrie des „Dritten Reichs“ wird . . .

Die Hauptfigur von „Lichtspiel“, G. W. Pabst, hat eine große Intuition, eine schlafwandlerische Sicherheit in seiner Kunst, außerhalb aber wirkt er wie ein Pechvogel, sehr verloren. Ganz anders Tyll Ulenspiegel, der Held Ihres vorigen Romans, „Tyll“, der sich so gewieft durch die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs manövriert. Ist es Zufall, dass Sie hintereinander zwei Figuren wählen, die so gegensätzlich in dunklen Zeiten bestehen?

Das ist eine schöne, verblüffende Beobachtung, ich sehe diesen auffälligen Kontrast zum ersten Mal. Es stimmt, beides sind dunkle Zeiten, aber der eine behauptet sich und der andere überlebt, fällt aber dem Druck und den Zwängen der Zeit zum Opfer. Mich hat jedenfalls diese Geschichte eines großen Künstlers fasziniert, der unmerklich in ein Terrain kommt, in dem er nicht sein möchte – nicht durch eine große Entscheidung, sondern durch eine Verkettung von Umständen und teilweise eigenen Schritten, obwohl jeder einzelne dieser Schritte für sich genommen vertretbar ist. Das ist eine ganz untypische Emigrationsgeschichte. Und diese untypischen sind die für die Literatur interessanten Geschichten. Das ist auch der Grund, warum ich zwar vor vielen Dingen in der Welt Angst habe, aber nicht davor, dass Chat GPT ernsthaften Schriftstellern, Filmemachern usw. die Arbeit wegnehmen könnte. Per definitionem, also per Programmierung erzählen die Large Language Algorithms die typischsten Geschichten, produzieren die wahrscheinlichsten Sätze.

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