Interview

Leeres Nest: Was auf Eltern zukommt, wenn ihre Kinder ausziehen

Simone Breitenfeld ist Klinische und Gesundheitspsychologin in Wien.
Simone Breitenfeld ist Klinische und Gesundheitspsychologin in Wien.Clemens Fabry
  • Drucken

Wenn das elterliche Nest verlassen wird, stellt sich bei den Zurückgelassenen oft Verlustangst ein. Psychologin Simone Breitenfeld im Interview über Tipps, was dann zu tun ist. 

Fast alles im Leben von Eltern dreht sich fast zwei Jahrzehnte lang um ihre Kinder. Sie sind die Ersten, die viele bei Entscheidungen mitdenken, der Mittelpunkt der meisten Sorgen. Und plötzlich kommt der Moment, an dem ihre Kinder zu jungen Erwachsenen herangewachsen sind, ihre Koffer packen und zum Studieren in eine andere Stadt ziehen. Mit welchen Ängsten und Problemen beide Seiten dann zu kämpfen haben und wie man ihnen am besten begegnet, erklärt Kinder- und Familienpsychologin Simone Breitenfeld im Interview.

Die Presse: Für wen ist der Auszug aus dem Elternhaus schlimmer, für die Kinder oder die Eltern?

Simone Breitenfeld: Das ist ganz unterschiedlich. Es ist meistens ein entspannterer Verlauf, wenn sowohl Eltern als auch Kinder etwas unsicher sind oder beide sich freuen, weil beide Seiten Ähnliches empfinden und sich gegenseitig verstehen können. Kompliziert wird es dann, wenn die Kinder sich extrem freuen und die Eltern Angst haben und nicht loslassen können.

Womit kämpfen die Eltern dann besonders?

Dieser neue Lebensabschnitt kann viele Fragen und Ängste bei den Eltern auslösen. Sind die Kinder selbstständig genug und gut genug auf das vorbereitet, was auf sie zukommt? Werden sich die Kinder distanzieren, wenn sie nicht mehr im selben Haus sind? Wie wird sich die Beziehung zu den Kindern verändern? Wie wird es für die Eltern als Paar weitergehen? Es ist eine Situation für Eltern, die sie so noch nie hatten. Das kann Angst machen, das muss man auch so anerkennen.

Sollten die Eltern darüber mit anderen sprechen?

Auf jeden Fall. Wie bei Jugendlichen kann man sich auch hier eine Peergroup von anderen Erwachsenen suchen, die gerade in einer ähnlichen Situation sind und Freunde fragen, wie es ihnen ging, als sie das erlebt haben und was sie gemacht haben. Es gibt zusätzlich auch eine psychologische Elternberatung. Das tut vielen gut und ist nicht so abwegig. Die Gefühle, die man als Elternteil in dieser Zeit hat, sind vollkommen legitim und können herausfordernd sein.

»Es ist eine Situation für Eltern, die sie so noch nie hatten. Das kann Angst machen, das muss man auch so anerkennen.«

Simone Breitenfeld

Psychologin

Lange Zeit waren die Kinder der Lebensmittelpunkt. Bleibt da dann nicht auch viel neue Freizeit?

Absolut. Viele Eltern haben sehr viel Zeit in die Kinder und deren Alltag investiert und das fällt dann weg. Gerade, wenn man vor dieser Phase nicht wirklich Freundschaften oder Hobbys aufgebaut hat, kann das sehr einsam sein. Es fehlt einem eine Aufgabe. Deshalb ist es wichtig, dass man in dieser Phase sich selbst priorisiert, auf sich schaut und überlegt, was man braucht und möchte und was man beispielsweise schon immer mal probieren wollte.

Kann ein Auszug auch eine große Chance für die Beziehung zu den Kindern sein?

Ja, kann es. Aber es braucht natürlich anfangs eine Phase, in der man herausfinden muss, wie die Dynamik ist. Meldet sich das Kind von sich aus, wie sehr meldet man sich als Elternteil, wie viel ist zu viel, wie wenig zu wenig? Vorher verbrachte man Zeit miteinander, weil man räumlich auf engem Raum war. Es passierte automatisch. Nun muss man sich bewusst dafür entscheiden, sich zu sehen oder zu telefonieren. Das kann die Qualität der gemeinsamen Zeit erhöhen und es kann Konflikte entspannen. Aber dafür müssen die Eltern die Beziehung mit dem Kind, das nun ein junger Erwachsener ist, auf eine neue Ebene heben und dieses ein bisschen gleichwertiger, erwachsener behandeln.

»Auch die Kinder müssen sich auf einen gänzlich neuen Lebensabschnitt einstellen, der Angst machen kann.«

Simone Breitenfeld

Psychologin

Sollten die Kinder merken, wie schwer den Eltern diese Distanz und Umstellung fällt?

Ich finde nicht. Die Kinder sollten diese Last nicht tragen müssen, denn es kann sie zusätzlich verunsichern. Zu ihren eigenen Sorgen kommt dann noch Angst um die Eltern. Denn auch die Kinder müssen sich auf einen gänzlich neuen Lebensabschnitt einstellen, der Angst machen kann. Die Eltern und Erwachsenen müssen das unter sich ausmachen und sollten nur Zuversicht ausstrahlen. Wenn sie nicht mit der Situation zurechtkommen, müssen sie sich Hilfe suchen. Das ist ihre Verantwortung.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn das Kind verzweifelt anruft, weil es Heimweh hat und alles an der Uni oder in der Arbeit schwierig ist?

Sie sollten nicht vorschlagen, dass das Kind nach Hause kommen kann und es dann halt etwas anderes macht. Das klingt kurzfristig nach großer Hilfe und Erleichterung, ist es aber nicht wirklich. Denn es bestätigt dem Kind, dass es das nicht schaffen wird, es verstärkt die Zweifel, weil die Eltern auch nicht an einen glauben.

Was sollte man stattdessen machen?

Man sollte die Ängste und Probleme mit dem Kind durchsprechen und versichern, dass man da ist, aber dass man keine Zweifel hat, dass das Kind das schafft. Man kann auch Hilfe anbieten und in die Stadt kommen, helfen, ein Netzwerk aufzubauen, einen Plan zu machen, und die neue Umgebung gemeinsam erkunden.

Warum ist das wichtig?

Manche Erfahrungen müssen Kinder selbst machen, man kann nicht alles für sie aus dem Weg räumen. Und es kann auch wahnsinnig schön sein für Eltern zu sehen, wie sich das Kind entwickelt, welche Erfolge es erlebt, wie es sich auf eine neue Situation einstellt und diese meistert. Darauf dürfen Eltern stolz sein und ihre Kinder erst recht und das kann die Beziehung stärken. Aber dafür müssen sich Eltern und Kinder auf diesen neuen Lebensabschnitt einlassen, auch wenn er Angst macht.

Zur Person

Simone Breitenfeld ist Klinische und Gesundheitspsychologin in Wien. In ihrer Praxis „Fördercheck“ im dritten Bezirk liegt der Schwerpunkt auf Kinder-, Jugend- und Familienpsychologie sowie in der Neuropsychologie. Zielgruppe sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Lern- und Leistungsschwierigkeiten in der Ausbildung, im Job oder aufgrund neurologischer Erkrankungen.

Clemens Fabry

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.