ensembleschutz. Tallinn hat eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Altstädte Euro-
pas. Heißt: Unesco-Weltkulturerbe.
Estland

Tallinn: Professionell von Wehrturm bis Sauna

Die zwei größten estnischen Städte zeigen ihre Stärken: Tallinn, die Stadt der Türme, und Tartu, eine der europäischen Kulturhauptstädte 2024.

Tallinn (450.000 Einwohner) kümmerte sich immer ausgezeichnet um den Erhalt seiner Gemäuer. Es wäre nicht das gewissenhafte Tallinn gewesen, hätte die Stadt, die lang unter ihrem deutschen Namen Reval bekannt war, sich nicht von früh her professionell befestigt. Die weitläufige Innenstadt gehört – mit Unterstadt, Domberg, Parlament und Newski-Kathedrale – zu den besterhaltenen mittelalterlichen Ensembles Europas. Nacheinander geriet sie in ihrer Geschichte unter die Fittiche der Dänen, Schweden, Deutschen und Russen, die wiederum einander bekämpften, wobei der Part der Esten lange Zeit nur der dienende war, vor allem in Form von bäuerlichen Leistungen, die von den Besatzern bis aufs Letzte ausgepresst wurden. Tani-Linna heißt nicht zufällig „dänische Burg“. Einen Vorteil hatte die Militärgeschichte – die Tallinner wurden zu Meistern in der Kunst, großartige und effiziente Wehrtürme zu errichten, 26 von ihnen stehen noch heute in der Stadtmauer, andere Türme, wie jener der 124 Meter hohen, spitzen Olaikirche (Oleviste Kirk, erstmals 1267 erwähnt, geht auf Norwegens König Olav II. zurück), eignen sich als Aussichtspunkte. Noch höher ist nur der Fernsehturm, 314 Meter mit einer Plattform auf 170 Metern, der angeschnallte Spaziergänge entlang der äußeren Kante anbietet.

fahrplan. Tallinn lässt sich nicht  nur gut zu Fuß erkunden, sondern auch entspannt per (Leih-)Rad. Im Winter gibt es dicke Reifen.
fahrplan. Tallinn lässt sich nicht  nur gut zu Fuß erkunden, sondern auch entspannt per (Leih-)Rad. Im Winter gibt es dicke Reifen.Renee Altrov

Die Dicke, die Küche. Angreifern vom Meer fiel der prominenteste Turm sofort auf – Paks Margareeta oder die Dicke Margarete (1510) mit einem Durchmesser von 25 Metern. Seit den Anfangszeiten trug sie viele Namen (Runder Turm, Neuer Rosengartenturm), ihren derzeitigen gaben ihm russische Matrosen im 19. Jahrhundert. Mit ihrer zugeschriebenen Weiblichkeit blieb die Dicke Margarete lange der mächtigste unter den schweren Kanonentürmen. Mit 32 Kanonen und 124 Feuerwaffen konnte man von ihr aus die Mauer verteidigen, ihre Wände an der Basis waren fünf Meter dick. Als der Verteidigungszweck in den Hintergrund trat, diente sie zuerst als Waffenlager und Gefängnis, in der Ersten Republik als Kino und Tanzkub, für die Moskauer Olympischen Spiele wurde auf ihr sogar ein Rooftop-Café eingerichtet, und gegenwärtig beherbergt sie das Estnische Seefahrtsmuseum mit dem Wrack einer Hansekogge.

Ein anderer, auch beträchtlich pummeliger Artillerieturm heißt heute „Kiek in de Kök“ (1475), da man von diesem Bauwerk ausgezeichnet in die Küchen fremder Leute blicken konnte. Der Kiek versank allerdings teilweise, seine beiden untersten Stockwerke stecken tief in der Erde. „Kyck in de Kaeken“ nannten sie ihn bereits 1577, in kargeren Zeiten hieß er zwischendurch auch nur „Munitionsturm“. In der Sowjetära gab er Fotoausstellungen Raum und galt als „Phototurm“. Inzwischen hat der Küchenblickerturm seine Bestimmung gefunden als Museum für Stadtbefestigung. In Küchen sieht man immer noch, vielleicht sogar, wenn jemand gerade auf Estnisch zuprostet: „Teviseks!“ Nein, das hat nichts mit Sex zu tun, nur mit Gesundheit.

langform. Das moderne Estnische Nationalmuseum nahe Tartu steht auf der Landebahn des früheren sowjetischen Militärflughafens.
langform. Das moderne Estnische Nationalmuseum nahe Tartu steht auf der Landebahn des früheren sowjetischen Militärflughafens. BTH Studio

Der Hohe, die Sauna. Pikk Hermann, der Lange oder Hohe Hermann (1370 in immerhin zwei Dritteln seiner jetzigen Höhe errichtet, bis zum 16. Jahrhundert stetig erweitert), ist ein über 80 Meter hoher Wachturm und Teil des Tallinner Schlosses, daher trägt er Flagge – die junge Erste Republik hisste im November 1918 die Estnische Trikolore, die nur bis zur sowjetischen Annektion 1940 wehen sollte. Auch der Saunatorn (Saunaturm) stammt aus dem 14. Jahrhundert, er war zu Beginn Teil eines Zisterzienserklosters. Zu jener Zeit betrieb jemand in seiner Nähe eine Frauensauna, was zu einem Skandal führte, da sich die Nonnen des Klosters über sie beschwerten – nicht etwa aus moralischen Gründen, sondern weil das Gebäude direkt und ungut in ihrer Verteidigungslinie stand. Die Sauna wurde abgerissen, der Turm wuchs weiter, sein Name blieb. Der Loewenschede-Turm war wiederum der erste vierstöckige der Stadt, benannt nach dem Konstrukteur Winant Louenschede, der diese Defensivstruktur erbauen ließ – außen rundlich, zur Stadtseite hin eckig, gleichsam in der Form eines Hufeisens.

projektraum. Tallinn liegt nah am Baltischen Meer. Doch die Wasserkante entwickelt sich nach und nach.
projektraum. Tallinn liegt nah am Baltischen Meer. Doch die Wasserkante entwickelt sich nach und nach.TIMO HARTIKAINEN

Erster US-Wagen. Gebaut wird auch heute noch gern, nehmen wir das neu gestaltete Rotermann-Viertel. Das Industriegebiet zwischen Altstadt und Hafen in der Stadtmitte wurde jüngst zu einem quirligen Shopping-Gebiet unter Bürogebäuden in interessanter Architektur umgestaltet. Christian Barthold Rotermann (1840–1912) war einer der bekannten Industriellen der vorletzten Jahrhundertwende und der Erbauer eines Salzlagers an jener Stelle gewesen, wo seine Vorfahren noch einen Werkzeugmarkt betrieben hatten – heute das Estnische Architekturmuseum. Der Kleinbezirk war durch Rotermanns Geschäfte bald ähnlich belebt wie heute, Holzverarbeitung, Schnapsdestillierung, eine Mühle, eine Nudelfabrik, ein Kaufhaus, ein Kühlhaus.

Der Chef ließ die ersten Telefonleitungen Tallinns in sein Viertel legen, für seinen Sohn erwarb er das erste amerikanische Auto des Baltikums. Selbstverständlich ist das Rotermann-Viertel inzwischen Fußgängerzone, neben Niederlassungen estnischer Designer und diverser internationaler Modelabels frühstückt man hier in der sauerteigzentrierten RØST Bakery im historischen Nisuveski-Gebäude (Frühstück heißt natürlich Hömmikusöök), wo auch heute wieder die verschiedenen Sprachen zusammentreffen.

»Estnisch verfügt über 14 Fälle. Schon was vom Terminativ gehört?«

Estnisch selbst ist mit seinen 1,1 Millionen Sprechern die drittwichtigste finno-ugrische Sprache und verfügt über 14 Fälle, darunter so unbekannte wie den Terminativ, den Abessiv, den Adessiv und den Komitativ, kurz, auch Interessierte lernen es nicht einfach nebenbei. Am nächsten ist es dem Finnischen, was viele Finnen bestreiten würden, weil Estnisch in ihren Ohren etwas weniger elegant klingt. Dazu werden gern die habituellen Missverständnisse kolportiert: Sagt man auf Estnisch „Geist“, verstehen Finnen „Ehefrau“, sagt man das Wort für „Hochzeit“, verstehen sie „Probleme“.

Der versengte Igel. Gleich beim 600 Jahre alten Rathaus befindet sich eine der ältesten in den gleichen Räumen durchgehend geöffneten Apotheken Europas, die Ratsapo­theke oder „Tallinna Raeapteek“. Ein uraltes Gewerbe – schon 1442 berichten Chroniken von einem „dritten Apotheker“, der bereits an dieser Stelle ansässig war. Heute macht sie ihr Hauptgeschäft nicht mit Aspirin & Co., sondern mit Wundermitteln, unter anderen einem für die männliche Potenz, unvermeidlicher Renner bei Touristengruppen. In einem kleinen Museumsabschnitt stehen jene aus anderen Epochen noch zur Schau, eingelegte Hirschpenisse, sonnengetrocknete Hundefäkalien, ein versengter Igel, es gab immer Bedarf nach Unterhaltung und Magie.

programm. Bei Innovationen ist Estland vorn. Auf dem Technologiesektor kommt vieles aus Tartu, dem ersten nordischen Universitätsstandort. 
programm. Bei Innovationen ist Estland vorn. Auf dem Technologiesektor kommt vieles aus Tartu, dem ersten nordischen Universitätsstandort. Renee Altrov

Das moderne Tallinn konzentriert sich weniger auf Igel als auf Iglu-Saunen. Am kühlen Baltischen Meer, direkt im vitalisierten „Noblessner Seafront Quarter“ mit seinem Schiffsmuseum – das zaristische Russland baute in den nahegelegenen Werftgebäuden ab 1912 seine ersten U-Boote – liegt ein Igludorf, in dem man übernachten kann. Jede Einheit hat ihre eigene estnische Steinsauna, in der die Steine sechs Stunden erhitzt werden und da­raufhin fünf Stunden heiß halten. David Beckham soll von diesem Konzept so begeistert gewesen sein, dass er sich selbst eine solche Sauna orderte. Das Viertel rundum besticht durch die Proto-Entdeckungsfabrik, die virtuelle Realität als Erlebnis für Erwachsene und Kinder anbietet: Virtuell ist es hier möglich, das erste Auto der Welt zu lenken, die erste Lokomotive zu fahren, sich auf dem Meeresgrund fortzubewegen.

grossereignis. Tartu wird im kommenden Jahr Europäische Kulturhauptstadt, auch die Region rund um die Stadt wird Teil davon. 
grossereignis. Tartu wird im kommenden Jahr Europäische Kulturhauptstadt, auch die Region rund um die Stadt wird Teil davon. Riina Varol.

Waschmaschine aus Roten Rüben. 180 Kilometer südöstlich liegt Estlands zweitgrößte Stadt, das livländische Tartu (100.000 Einwohner, früher Dorpat) mit der 1632 gegründeten ersten Universität Nordeuropas (20.000 Studierende) am Emajõgi, dem Mutterfluss, dem längsten Estlands. Tartu gerät 2024 in den Fokus, wenn es zur Europäischen Kulturhauptstadt aufrückt. Das Team hat sich viel von den Erfahrungen in Kaunas abgeschaut und plant das Programm anhand der Schlagwörter Einzigartigkeit, Kreativität, Wissen und Bewusstsein.

Dazu kommt, dass mit 19 Gemeinden im Süden des Landes kooperiert wird, sodass man von einer Kulturhauptregion sprechen wird können. Auch das Küssen wird nicht zu kurz kommen, steht doch gegenüber dem Rathaus die Skulptur „Suudlevad tudengid“ (1998), „Küssende Studierende“, des lokalen Bildhauers Mati Karmin, der gern auch Seeminen aus dem Zweiten Weltkrieg verarbeitet, getreu nach dem estnisch-sowjetischen Motto „aus Roten Rüben eine Waschmaschine bauen“ – ein Massenevent „Kissing Tartu“ steht am Programm.

Das Estnische Nationalmuseum (Eesti Rahva Muuseum), etwas außerhalb von Tartu, steht auf der Landebahn des früheren sowjetischen Militärflughafens Raadi (1919–1996) und geht originelle Wege der Präsentation. Klar mit Hinweis darauf, dass das Programm Skype um die Jahrtausendwende in Estland mitentwickelt wurde, vom 1972 geborenen Ahti Heinla, der später Roboter konstruierte und Multimillionär wurde. Sein durchgewetzter Bürosessel darf nicht fehlen. Auch didaktischere Ausstellungen wie „Die Echos des Ural“ über finno-ugrische und die verwandten samojedischen Bevölkerungsinseln am Ural gehören zur modern-interaktiven Volksbildung in ­diesem erstaunlichen Gebäude.

Infos

Unterkunft: in Tallinn, Nordic Hotel Forum, nordichotels.eu, Radisson; Collections Hotel, radissonhotels.com. In Tartu: Soho Hotel, hotellsoho.ee

Gastro: in Tallinn, Rado restoran, ausgezeichnet, mit wechselnder Kreidetafel-Speisekarte, radorestoran.ee, Restaurant 38, 38restoran.com, RØst Bakery, im Rotermann-Viertel, ost.ee, ÜLÖ, japanophil, mit scharfen bzw würzigen („vürtsikad“) Gerichten, Kopli 16. In Tartu: Restaurant Kampus, wie oft in Estland mit wunderbarem Roggenbrot, kampustartu.ee

Museum und Sauna: Estonian National Museum, erm.ee, Iglupark, iglupark.com, Proto Invention Factory, prototehas.ee

Infos: Visit Estonia, visitestonia.com

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