Linguistik

Wie Mörder und Erotomanen das größte Wörterbuch schrieben

Sir James Murray, ein exzentrischer Philologe, machte das Oxford English Dictionary zu einem weltweiten „Crowdsourcing“-Projekt.
Sir James Murray, ein exzentrischer Philologe, machte das Oxford English Dictionary zu einem weltweiten „Crowdsourcing“-Projekt.Getty Images
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Das Oxford English Dictionary war nicht nur als Gemeinschaftswerk die „Wikipedia des 18. Jahrhunderts“, sondern auch ein Rettungsanker für Verfemte. Ein Buch setzt ihnen nun ein Denkmal.

Doktor Minor war ein Chirurg in der US-Armee, er brachte unter Wahnvorstellungen einen Mann um und wurde in ein Krankenhaus für geistig abnorme Rechtsbrecher eingeliefert. Von seiner Zelle aus sammelte und verschickte er 62.720 Zitate, die im Oxford English Dictionary die Verwendung von Wörtern dokumentieren sollten. Es war ein obsessiver Einsatz. Vielleicht verstand er ihn als Sühne, vielleicht als Weg, seinem Leben noch einen Sinn zu geben – indem er bei einem so prestigeträchtigen Werk mitwirken konnte.

Man hat die erste Auflage des Oxford English Dictionary die „Wikipedia des 19. Jahrhunderts“ genannt. 1857 fingen Gelehrte in Oxford damit an, lange ging wenig weiter. Der dritte Herausgeber, James Murray, erkannte ab 1879, dass sich das Mammutprojekt nur durch die weltweite Mithilfe vieler realisieren ließ. Erst 1928 war es fertig, mit 15.000 Seiten, 400.000 Einträgen und zwei Millionen Zitaten – eines der größten „Crowdsourcing“-Projekte der Geschichte. Wie groß, hat nun Sarah Ogilvie aufgezeigt. Die Linguistin arbeitet an der aktuellen, dritten Ausgabe mit.

Über 3000 waren dabei

Sie entdeckte im Keller der Oxford University Press das Adressbuch Murrays mit allen freiwilligen Mitarbeitern. Und siehe da: Nicht ein paar hundert Menschen steuerten bei, wie bisher geschätzt, sondern über 3000.

Den Biografien der Fleißigsten und Bekanntesten forschte Ogilvie nach. Daraus entstand das Buch „The Dictionary People“, das soeben auf Englisch erschienen ist und für viel Staunen sorgt. Denn es zeigt sich: Die wichtigsten Treiber waren zu einem guten Teil Außenseiter, Verfemte der Gesellschaft. Wir treffen Häftlinge, Suffragetten und Drogensüchtige. Wir lernen Katharine Bradley und Edith Cooper kennen, ein inzestuöses, lesbisches Paar aus Tante und Nichte, die Gedichte und Theaterstücke veröffentlichten, unter männlichem Pseudonym – ein Phantom, das Literaturkritiker mit Shakespeare verglichen. Für Verblüffung sorgt auch der Besitzer der damals weltgrößten Porno-Sammlung, ein Erotomane, der Einträge im Umfeld von Genitalien und Sadomaso-Praktiken beisteuerte, zusammen mit pikanten Zitaten zu sonst ganz harmlosen Begriffen. Einem damals unbeliebten Aktivisten für die Rechte der amerikanischen Ureinwohner verdanken wir den Eintrag zu „Bison“.

Doch auch große Namen finden sich unter den Adressen. Wie Eleanor Marx, die unglückliche Tochter von Karl Marx. Oder J.R.R. Tolkien: Der Schöpfer des „Herrn der Ringe“ arbeitete in jungen Jahren beim Buchstaben „W“ mit und grübelte über die Etymologie von „walrus“. Das Leitmotiv der exzentrischen Autodidakten aber klingt bis heute nach: Am Ende ihres Buches erzählt Ogilvie vom Besuch bei einem Australier, der von 1975 bis 2010 rund 100.000 Zitate aus Zeitungen ausschnitt und einschickte. Damit steuerte er, womit er selbst nie gerechnet hätte, mehrere tausend neue Wörter bei. In Oxford machte ihn das zur Berühmtheit. Unter seinen Nachbarn in Brisbane aber kennt man ihn als den Nudisten des Viertels, der abends nackt durch die Straßen spaziert.

Wer glaubt da noch an Zufall? Nein: Für viele, die sich in ihrem engen Umfeld ausgestoßen fühlten, war es wohl wie eine Befreiung, zu etwas ganz Großem beitragen zu dürfen. Und sei es nur ein einziges Wort.

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