Arabella Kiesbauer
Epoche

Die Neunzigerjahre kommen zurück

Viele der Innovationen der Neunzigerjahre haben die Welt nachhaltig verändert, begeistert begrüßt wurde sie selten. Das ist nun anders. Eine Spurensuche.

Die Neunzigerjahre waren eine Epoche der bahnbrechenden Innovationen. Zuerst eroberten Mobiltelefone und Heimcomputer die Herzen, dann schlich sich die große Welt in Form des Internet noch ins kleinste Kabinett hinein. Nur wenige waren gleich davon begeistert. Als es plötzlich Mobiltelefone mit eingebauten Kameras auf dem Markt auftauchten, fragten sich die meisten: Wozu? Muss man tatsächlich mit einem Telefon fotografieren, wo doch praktisch jeder eine fesche Kleinkamera besaß? Auch dem Internet begegnete eine Mehrheit zunächst skeptisch. Das soll die Zukunft sein? Lachhaft.

Auch der DJ und spätere Technomusiker Christopher Just hegte auf diesem Gebiet ein gewisses Misstrauen. „Obwohl ich musikalisch weit vorne war, gab ich dem World Wide Web nicht viel Zukunft. Ich dachte, das wäre eine flüchtige Zeiterscheinung, etwas, was nur für Nerds wäre.“ Die ersten Provider machten Werbung. Teleweb etwa, aus dem später Chello hervorging. Die Hipster der Stadt allerdings, die versammelten sich ab 1994 bei Silver Server von Oskar Obereder. „Das Erste, woran ich mich erinnern kann, das war der unendlich langsame Bildaufbau, wenn du auf Seiten mit Fotos warst. Aber das hatte wohl auch mit meinem lahmen Computer von damals zu tun“, schränkt Just ein. Die Motive, warum man sich so ein Kastel ins Zimmer stellte, die waren mannigfaltig. „Early Adopter kann man mich nicht nennen“, meint Just lachend. Er hat damals schlicht die abgelegten Computer seines Mitbewohners übernommen. Mit leichtem Widerwillen habe er die voll intakte Ausschussware akzeptiert. „Verwendet habe ich sie zunächst vor allem, um Korrespondenz damit zu machen. Aber nicht via E-Mail. Das gab es damals noch nicht. Ich habe Texte verfasst, ausgedruckt und dann mit der Post versendet. Und natürlich Rechnungen geschrieben. Dafür waren Computer super.“ Im Studio hat er sie bald als Sequenzer verwendet. Das war in einer Zeit, in der man noch nicht einmal CDs selbst brennen konnte. „Unsere Musik brachten wir auf DAT oder Minidisc ins Studio.“

Als die E-Mails ankamen

Auch Fernsehpersönlichkeit Arabella Kiesbauer kaufte sich ihren ersten Rechner aus recht profanen Gründen. „Ich habe mir den PC einfach zum Schreiben meiner Diplomarbeit angeschafft. Ich hatte früh ein tragbares Gerät. Die waren damals sauteuer. Ich glaube, meines hat 35.000 Schilling gekostet. Ich habe schon gearbeitet und es mir praktisch vom Mund abgespart.“ Als erste verwendete Suchmaschine fällt ihr Yahoo ein. „Es war und ist ein Wunder, dass man alles Nachschauen kann im Netz. Das hat man in diesem Ausmaß damals gar nicht begriffen.“ Die neue Kommunikationsmöglichkeit „E-Mail“ kam ihr zunächst im Berufsleben unter. „Mein damaliger Chef hatte die Idee, einen Computer in unserer Sendung aufzustellen. Die Zuseher sollten live E-Mails senden. Ich meinte damals bloß: Was ist das für ein Schwachsinn? Das wird sich nie durchsetzen“, erinnert sie sich. Schmunzelnder Nachsatz: „Es gibt halt Visionäre und solche, die es nicht sind.“

Was bleibt von den Neunzigerjahren? Technomusiker Christopher Just, einer der Protagonisten des Zeitgeists, wagt einen Blick zurück.
Was bleibt von den Neunzigerjahren? Technomusiker Christopher Just, einer der Protagonisten des Zeitgeists, wagt einen Blick zurück.Caio Kauffmann

Wirklich den Durchblick zu haben, welche Geräte und Techniken sich durchsetzen würden und welche nicht, das war kaum möglich. Dass so feine Apparate wie Telefonanrufbeantworter (mit Kassettenteil) und Faxgeräte so rasch wieder verschwinden würden, war nicht vorhersehbar. Der galoppierende Fortschritt in der Computertechnologie hat auch die Musikindustrie gefährdet. Sobald Privatleute CDs brennen konnten, verschwanden nicht nur DAT-Band und Mini-Disc vom Markt, sondern war die Musikindustrie selbst in ihrem Bestehen massiv gefährdet. Was in jenen Jahren boomte, das war das Musikfernsehen. Was war eigentlich das Tolle an visualisierten Popsongs? Kiesbauer: „Wir haben letztens mit unseren Kindern darüber geredet. Wir mussten ihnen erklären, dass es etwas Neues war, Musik auch sehen zu können. Die Entwicklung der Videos verlief ja rasant. Am Beginn hat man jemandem beim Gitarrespielen zugeschaut. Bald haben sich Minispielfilme mit unglaublichen Produktionsbudgets entwickelt. Wenn man wusste, dass am übernächsten Sonntag das neue Video von Michael Jackson rauskommt, dann fand man sich vor dem Bildschirm ein. Solche Premieren wurden richtiggehend zelebriert.“

Techno-Star Just gibt sich diesbezüglich reserviert. „Musikfernsehen war purer Stress für mich. Ich litt am Zwang, alles analysieren und bewerten zu müssen. Und die Bebilderung ödete mich auch an. Das Schöne an Musik ist ja, die eigene Imagination spielen zu lassen. Ich war kein Fan dieser Videokultur, aber eine Zeit lang hattest du als Musiker ohne Video keine Chance auf die Charts.“ Der 55-Jährige genoss eine andere Form des in den Neunzigern aufkommenden Spartenfernsehens, den Teleshoppingkanal. „Nach dreitägigen Raves war es das Einzige, was ich ertragen konnte. Unvergessen ist mir die Flowbee-Haarschneidemaschine, die mit Haarschnitten für die gesamte Familie warb.“ Riesenkarriere haben die Herren Elmar Giglinger und Markus Kavka, die zur Speerspitze der Musiksender MTV und Viva zählten und jetzt das Erinnerungsbuch „MTViva liebt dich!“ herausgebracht haben, gemacht. In rechtschaffener Selbstverliebtheit verherrlichen sie ihre Obsession fürs Musikfernsehen, eine Gattung, die mittlerweile ausgestorben ist, damals aber ein popkulturelles Fenster zur Welt öffnete. Das in den Neunzigern auf dem Höhepunkt befindliche Phänomen startete bereits am 1. August 1981. Das erste Video, das auf Sendung ging, war das freche „Video Killed the Radio Star“ von der Trevor-Horn-Kombo The Buggles. Die Wirklichkeit wich dann radikal von der Prognose im Lied ab. Radio gibt es noch, das Musikfernsehen nicht mehr. Es ist diskret verblichen.

Political Correctness

Wie auch das, was früher Jugendkultur genannt wurde. Bis in die Neunziger mündeten Riten der sozialen Distinktion, also der Abgrenzung zu anderen Jugendlichen respektive zu Erwachsenen, regelmäßig in frischen Sounds. Diesbezüglich waren die Neunzigerjahre die letzte Dekade, in der sich neue Musikgenres entwickelt haben. „Jugendsubkultur war schon in den Neunzigern über dem Höhepunkt“, lautet der Befund von Just. „Die jetzige Generation hat das Pech, dass ihre eigene Kreativität nicht gefordert wird. Niemand muss sich mehr eine eigene Kultur erfinden und reservieren, um als individuell zu gelten. Du kriegst alles serviert. Somit bleibst du in einer Massenkultur gefangen und bist gezwungen, Konsument zu sein.“ Die ältere Generation pachtet das jugendliche Verhalten für sich, so dass den wirklich Jungen nur mehr die Flucht ins Konservative bleibt. „Früher versuchte die Elterngeneration immer Kontrolle über dich zu haben“, sagt Just, „heute kontrollieren sich die Kids mit den Mittel der Political Correctness gegenseitig.“ Auch Arabella Kiesbauer ortet einen erhöhten Frohsinn bei ihrer Generation und gleichzeitig ein diffuses Unbehagen bei jüngeren Menschen. „Im Vergleich zu unserer Elterngeneration sind wir im Privaten viel jugendlicher geblieben. Wir kleiden uns hip, gehen aus, tanzen in den Clubs Seite an Seite mit den Jungen. Und wenn ich mich umblicke, muss ich feststellen, dass wir mehr Spaß haben als die Youngsters. Das ist ein interessantes Phänomen.“

Klassiker Red Bull Wodka

Die Neunzigerjahre waren auch eine Zeit des Optimismus und der Geschmacksverfeinerung. Umweltprobleme, Klimaver­änderung, das waren Phänomene, die als lösbar angesehen wurden. Also konzentrierte man sich auf das, was man für wesentlich erachtete. Etwa die entschlossene Abkehr vom Filter- und Löskaffee. Jetzt kam der Schaum ins aufputschende Getränk. Und der wurde sogar mit Motiven versehen. Wenn man einen Cappuccino bestellte, wurde dieser gern mit Herzchen oder Bäumchen im Milchschaum serviert. Und mit Gewürzen aufgepeppt. Mit Zimt und Kardamon oder gar mit Sirup wurde der Geschmack „erweitert“. Ein Trend, der sich auf verschärfte Weise heute fortsetzt, da kleine Cafés mit seltenen Ernten und speziellen Röstungen auftrumpfen. Das umfassende Wissen eines Barista um die richtige Crema ist mittlerweile Allgemeingut geworden. Zu einem (umstrittenen) Klassiker ist auch Red Bull Wodka geworden. „Kurzfristig war ich ein Fan des Getränks“, erinnert sich Just. „Red Bull war ja eine Zeit lang in Deutschland verboten. Damals schmuggelten wir ganze Steigen mit, wenn wir auf Tournee waren. Das war unser Gastgeschenk.“ Ein anderer Food-Trend, das Servieren von Miniportionen, feierte zudem fröhliche Urständ. In den Neunzigern eröffnete eine Restaurantkette mit diesem Miniportionskonzept namens „Lustig Essen“ in Wien. Arabella Kiesbauer erinnert sich daran mit gemischten Gefühlen. „Ich habe es sogar einmal ausprobiert. Aber beim Essen kenne ich keinen Spaß. So eine Portion ist in erster Linie meine Portion. Beim Essen mag ich nicht teilen. Die Sinnhaftigkeit dieses Konzepts hat sich mir nicht wirklich offenbart.“ Jetzt gibt es in Wien wieder einige Lokale wie die Feinkosterei Schwarz-Hirsch, die mit dieser speziellen Lust auf kleine Häppchen reichlich Umsatz machen.

Ann Summa

Viel Geld ist auch mit anderen Phänomenen zu machen, die aus der Dekade der Neunziger herrühren. Etwa mit Tattoos und Piercings. Während Tätowierte früher gesellschaftliche Außenseiter waren, Seeleute oder Häfenbrüder, erwischte es in den Neun­zigerjahren auch Etablierte. Man wollte sich einen Hauch von Subversion geben oder generell zeigen, dass man „anders“ ist. Plötzlich ließen sich Rechtsanwälte, Schauspieler und Frauen ein Tattoo stechen. Die Tätowierer dachten über die Herkunft des Hautschmucks in anderen Kulturen nach und präsentierten archaische Symbole. Die Tribal-Tattoos von Ed Hardy wurden zum globalen Hit. Das Unbehagen in unserer Massenkultur ist seit damals noch gestiegen, denn mittlerweile sind die letzten Tabus auf diesem Sektor gefallen. Der Ehrenkodex der Tätowierer, keine Gesichtstätowierungen bei jungen Menschen zu applizieren, den gibt es nicht mehr. Wenn es dem „Empowerment“, der individuellen Selbstermächtigung, dient, dann ist selbst diese Form von Verschandelung möglich. Das Arschgeweih, die ultimative Modesünde der Neunziger, ist zuweilen immer noch zu sehen. „Tramp Stamp“ hieß diese halb sichtbare und halb unsichtbare Verzierung des Steißbeins auf Englisch. „Schlampenstempel“ übersetzten die Deutschen. Piercings, etwa der Swarovski-Stein im Nasenflügel, waren gleichfalls enorm hip. Beides zeigte sich auch bei Arabellas TV-Show. „Ich habe wahrscheinlich in Deutschland diesen Trend wesentlich mitangeschoben. Wir präsentierten zunächst Leute aus dem Underground, die ihre Piercings und Tattoos zeigten. Später wurden Piercings, Brandings und Tattoos live in unserer Sendung verabreicht.“ Auch der sonst so stilsichere Christopher Just hat 1997 etwas angestoßen, was unheilvolle Wirkung zeitigte. Aus Jux und Tollerei verband er unter dem Signet Roy Edel Techno-Elemente mit einer Schlagermelodie. Das kuriose Stück „Mein allerliabster Sound is Techno“ war der Vorläufer der heutigen Schlagerwelt, in der es kein Lied mehr ohne Technogeballer schafft. „Nach mir war der nächste Schritt die Zusammenarbeit von DJ Ötzi und Stefan Biedermann. Die haben Jahre später auch gesagt, Schlager und Techno müssen wir zusammenpicken. Jetzt gibt es ja keinen Schlager mehr ohne Techno-Elemente. Die Jungen auf der Wiesn, die brauchen diese Mischung.“

Farbenfrohe Party

Ein bunter Mix war auch die Mode der Neunziger, von der eher wenig geblieben ist. Einige textile Elemente der damaligen Undergroundszene sieht man auch heute noch bei Nacht in den Clubs. Camouflage-Muster etwa, synthetische Rave-Pullover oder Adidas-Retro-Sachen. „Sabotage war meine Lieblingsmarke damals“, sagt Just. „Tolle Materialien und oft auch Camouflage-Style. Was ich nicht mochte, das war dieses schlumpfige Zeug. Zu große Pullover und Zipfelmützen, das war der Marusha-Stil. Früher war Marusha ja Underground, aber mit ihrem Hit ,Somewhere over the Rainbow‘“ brachte sie den Techno ins ,Bravo‘-Hefterl. Und der Modestyle, den sie prägte, der sorgte für eine zügige Entsexualisierung des Dancefloors. Da gab es Leute auf der Tanzfläche, die trugen kleine Rucksäcke und hatten Schnuller im Mund. Das war sehr lächerlich.“ Auch die ganze Technoparaden ödeten ihn bald an. „Als wir merkten, dass es volksfestartige Züge annahm, war’s vorbei für uns. Alles verprollte damals. Da wollten wir nicht mehr dabei sein. Aber Techno ist wieder toll zurückgekommen. Der Sound hat sich zwar nicht mehr geändert seit den Neunzigern. Nur in Nuancen und in neuen Kombinationen. Aber bei den 18-Jährigen ist man heute wieder beim ursprünglichen Sound: sehr monoton, sehr düster und sehr fordernd. Die brauchen wirklich wieder die Dröhnung.“

Ganz anders Arabella Kiesbauer, die als Moderatorin der Jugendsendung „X-Large“ einmal einen Technobeitrag mit Just ansagte und ihre Zweifel hatte, ob denn das wirklich Musik sei. Sie stand mehr auf Italo-House, Michael Jackson und reuelosen Kommerz wie Black Box oder Dr. Alban. „Ich bin sicher zehn Jahre lang nicht in Diskotheken gegangen, weil es überall diese Techno-Sounds gab.“ Auch was Fashion anlangte, mochte sie sich zuweilen geirrt haben. Sie nimmt es mit Humor. „In meiner Talkshow habe einen eigenen Stil gepflegt. Das waren Kleider mit vielen Schichten. Layering. Wallende Sachen, verschiedene Schichten übereinander, sehr bunt. Im Rückblick betrachtet ziemlich grauenvoll. Aber damals dachte ich, ich wäre ganz vorne mit dabei.“

Zum Nachempfinden

Lektüre: „No Limits – Die Neunziger“ von Jens Balzer (Rowohlt Berlin);

„MTViva liebt dich – Die elektrisierende Geschichte des
deutschen Musikfernsehens“ von Markus Kavka und Elmar Giglinger (Ullstein Extra)

Musik: „Live: New Kids on the Block“ (Magic Summer Tour 2024).

Mel B. machte An­deutungen über ein eventuelles Spice-Girl-Project mit Victoria Beckham.

Tanzfläche: 90ies Club im Loft am Lerchenfelder Gürtel: findet regelmäßig statt.

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