Der ökonomische Blick

Jenseits des Klischees: Über „sex“ vs. „gender“ in der wirtschaftlichen Entscheidungsfindung

Welche Rolle spielen die Geschlechtsidentität und das biologische Geschlecht für die wirtschaftliche Entscheidungsfindung?
Welche Rolle spielen die Geschlechtsidentität und das biologische Geschlecht für die wirtschaftliche Entscheidungsfindung?APA / AFP / Joe Klamar
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Menschen treffen täglich Entscheidungen, bei denen es um Geld geht. Sie reichen von der Frage, ob man sich in einem kompetitiven Umfeld für einen Job bewerben oder in einen riskanten Vermögenswert investieren soll bis hin zur Frage, wie viel für einen wohltätigen Zweck gespendet werden soll. Aber welche Rolle spielen die Geschlechtsidentität und das biologische Geschlecht für die wirtschaftliche Entscheidungsfindung?

Jede Sekunde treffen Menschen weltweit Entscheidungen rund ums Geld, die sowohl für sie als auch für die Gesellschaft und die Wirtschaft von Bedeutung sind. Die Verhaltensökonomik versucht, diese Entscheidungen besser zu verstehen, und verwendet sogenannte ökonomische Experimente. Bei diesen erhalten Probandinnen und Probanden einen Geldbetrag und müssen beispielsweise entscheiden, wie viel sie für sich selbst behalten und wie viel sie spenden wollen. Entscheidungen, die in solchen einfachen ökonomischen Experimenten getroffen werden, sagen unter anderem voraus, wie Menschen sich am Arbeitsmarkt oder innerhalb der Gesellschaft verhalten. 

Was ist „Der ökonomische Blick“?

Jede Woche gestaltet die Nationalökonomische Gesellschaft (NOeG) in Kooperation mit der „Presse“ einen Blogbeitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften.

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Neben Faktoren wie dem kulturellen Hintergrund oder dem Einkommen gilt auch das Geschlecht als Erklärung für ökonomisches Verhalten. Neu ist, dass weltweit immer klarer zwischen der selbst gewählten sozialen Geschlechtsidentität (im Englischen „gender“) und dem biologischen Geschlecht (im Englischen „(biological) sex“; generell, das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht) unterschieden wird. Allerdings ließ die wirtschaftliche Forschung bisher offen, wie viel der ökonomischen Entscheidungsfindung mit „gender“ und wie viel eher mit „sex“ erklärt werden kann. Oder ist es vielleicht ein Zusammenspiel beider Faktoren?

Meine Co-Autoren und ich hatten uns das Ziel gesetzt, diese Fragestellungen erstmals zu untersuchen. Dafür haben wir Entscheidungen von gesamt 780 Cis- und Transgenderpersonen miteinander verglichen. Typischerweise stimmen bei Cisgenderpersonen „gender“ und „sex“ überein. So steht also beispielsweise in der Geburtsurkunde „weiblich“, und eine Person lebt als Frau. Bei Transgenderpersonen stimmen „gender“ und „sex“ üblicherweise nicht überein. Wenn beispielsweise bei einer Person bei der Geburt „männlich“ eingetragen wurde, diese aber als Frau lebt, würde diese als Transfrau bezeichnet werden. 

Durch diese besondere Gruppe von Probandinnen und Probanden konnten wir „gender“ und „sex“ differenziert betrachten. Wir spekulierten, dass wenn „gender“ tatsächlich das ökonomische Verhalten bestimmt, diejenigen mit demselben „gender“ (Cis- und Transmänner sowie Cis- und Transfrauen) gleiche finanzielle Entscheidungen treffen würden. Falls jedoch die Biologie im Spiel wäre, dann würden jene mit demselben „sex“ (Cismänner und Transfrauen sowie Cisfrauen und Transmänner) verhaltensmäßig gleich sein. In unserer in Nature: Scientific Reports veröffentlichten Studie haben wir mithilfe einer Reihe etablierter ökonomischer Experimente ermittelt, wie kompetitiv, risikobereit, und altruistisch Cis- und Transgenderindividuen waren – alles Verhaltensweisen, die wichtig für die Wirtschaft und die Gesellschaft sind. 

Weder „gender“ noch „sex“ bestimmen Entscheidungen

Interessanterweise zeigen unsere Daten, dass weder „gender“ noch „sex“ die Entscheidungen in unserer Studie bestimmen. Das mag überraschen, auch weil ich selbst in vergangenen Arbeiten Geschlechterunterschiede gefunden habe. Allerdings haben Bildungsinitiativen und ein größeres Bewusstsein für die Geschlechtergleichstellung vermutlich die Verhaltensunterschiede über die letzten Jahre verringert. Zu vermerken ist auch, dass unsere Studie mehrheitlich aus Probandinnen und Probanden aus Großbritannien und den USA besteht. In diesen Ländern ist die Geschlechtergleichstellung nicht nur gefühlt, sondern auch belegt schon weiter als in vielen europäischen Ländern. 

Abseits von unseren eigentlichen Ergebnissen möchte ich auch auf eine breitere Bedeutung unserer Studie hinweisen. Erstens entwickeln sich Geschlechterstereotypen (welches Verhalten ist „typisch Frau“ oder „typisch Mann“) ständig weiter. Daher sollte Personen auf Grundlage individueller Verdienste und Fähigkeiten beurteilt und gefördert werden, statt veralteten Stereotypen zu folgen, die weiter zu Geschlechterungleichheiten, besonders am Arbeitsplatz, beitragen könnten. Zweitens betont unsere Berücksichtigung von Probandinnen und Probanden, die abseits der klassischen binären Geschlechtsidentitäten leben, dass noch einiges aufzuholen ist. Die Forschung, Unternehmen und andere Institutionen sollten beginnen, aktiv alle Geschlechtsidentitäten zu berücksichtigen. Warum nicht in Fragebögen „männlich“, „weiblich“ und „divers“ (mit der Möglichkeit zur genaueren Angabe) standardmäßig zur Auswahl stellen – sodass sich wirklich alle angesprochen fühlen?

Nur die aktive Einbeziehung aller Personen ermöglicht eine umfassende Repräsentation der Gesellschaft. Es wäre ein klares Signal im neuen Jahr, speziell im traditionellen Wirtschaftssektor, wenn man sich für alle Farben des Regenbogens und darüber hinaus einsetzen würde. Nicht nur, weil sich (Gender-)Diversität wirtschaftlich auszahlt. Sondern auch, weil Diversität, Gleichheit und Inklusivität wichtige Bestandteile unseres Wertesystems sind und daher tagtäglich gelebt werden sollten. 

Die Autorin

beigestellt

Dr. Helena Fornwagner ist Senior Lecturer an der University of Exeter (UK) und Associate am Wifo. Sie ist Verhaltensökonomin und konzentriert sich in ihrer Forschung vor allem auf Projekte rund um das Thema Geschlechtsidentitäten im ökonomischen Kontext. Bevor Helena ihren Lebensmittelpunkt nach Großbritannien verlegte, arbeitete sie an der Universität Innsbruck und an der Universität Regensburg. 

Referenzen

„Über die Robustheit geschlechtsspezifischer Unterschiede im Wirtschaftsverhalten“ ist in „Nature: Scientific Reports“ veröffentlicht. Das Profil von Dr. Helena Fornwagner von der University of Exeter finden Sie hier.

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