Geschichte

Kafka, Musil, Monroe: Über die Aura der unvollendeten Werke

Marilyn Monroe 1962, kurz vor ihrem Tod, bei den Dreharbeiten zu einem nie fertiggestellten Film.  
Marilyn Monroe 1962, kurz vor ihrem Tod, bei den Dreharbeiten zu einem nie fertiggestellten Film.  Bettmann
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Braucht Franz Kafkas »Schloss« einen Schluss? Ein großes Kunstwerk muss nicht unbedingt vollendet sein. Manchmal ranken sich um das Zeugnis eines Scheiterns, um das Bruchstück, das Fragment, faszinierende Mythen.

Giacomo Puccinis „Turandot“ ist eine mitreißende Oper rund um das Märchenmotiv einer eiskalten chinesischen Prinzessin, die die Brautwerber, die nicht imstande sind, drei Rätsel zu lösen, köpfen lässt. Die starbesetzte Aufführung im Dezember in der Wiener Staatsoper war einer der Höhepunkte der Saison. Gespielt wurde, wie heute üblich, die Langversion der Oper. Der Schlussteil stammte nicht von Puccini. Der Komponist starb im November 1924 während der Behandlung seines Kehlkopfkrebses. Die letzte Figur, die er kreiert hatte, war die einer großen Liebenden, der Liú, die sich für ihren Geliebten, dem der Prinzessin Turandot verfallenen Calàf, opfert. Bei der Uraufführung 1926 an der Mailänder Scala legte der Dirigent Arturo Toscanini nach dem Tod Liús den Taktstock beiseite und sagte: „Hier endet das Werk des Meisters. Danach starb er.“

Man könnte also die Oper immer nach zwei Stunden beenden, das Genre verlangt nicht nach einem Happy End, das gibt es auch bei „Tosca“ und „La Bohème“ nicht. Dennoch wurde ein Puccini-Schüler, Franco Alfano, beauftragt, die Oper zu vollenden. Eine leichte Aufgabe war das nicht gerade. „Liú ist tot, und die beiden anderen sind die Kriminellen, die sie auf dem Gewissen haben. Wie kann die Liebe auf dem Fundament einer Leiche fortgesetzt werden?“ Gedanken, die sich die Regisseurin Yona Kim 2022 in Hamburg machte. Mit dem Problem dürfte sich auch Puccini herumgequält haben.

Ein Meisterwerk muss nicht unbedingt vollendet sein, um uns zu faszinieren. Es gibt Kompositionen, die Fragment geblieben und dennoch aus den Spielplänen der Musikhäuser nicht wegzudenken sind. Manchmal ist auch das Unvollendete vollendet. Auch Bruchstücke können eine große Kraft haben, sodass man den Schluss nicht vermisst.

»Das Fragment scheint die angemessene Kunstform unserer Zeit zu sein.«

Susan Sontag

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