Interview

Willem Dafoe: „Ein Film, der Zähne zeigt“

„Ich meine, der Sex in ,Poor Things‘ ist eher Gesellschaftskritik in Steno-Form. Er ist nicht explizit als Sex gemeint“, sagt Willem Dafoe (Bild:  Toronto International Film Festival, September 2023). Für die Vorbereitung auf seine Rolle begab er sich unter anderem in eine Leichenhalle.
„Ich meine, der Sex in ,Poor Things‘ ist eher Gesellschaftskritik in Steno-Form. Er ist nicht explizit als Sex gemeint“, sagt Willem Dafoe (Bild: Toronto International Film Festival, September 2023). Für die Vorbereitung auf seine Rolle begab er sich unter anderem in eine Leichenhalle.Getty Images/R. Marchant
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Willem Dafoe gilt mit seiner Rolle in »Poor Things« als Oscar-Kandidat. Die Kritiker sprechen von einem der besten Filme des Jahres. »Dieser Film hat so viele Besonderheiten, dass ich mich wirklich freue, dass er bisher so viel Applaus bekam«, sagt der 68-jährige US-Schauspieler.

Am 23. Jänner wird verkündet, wer in diesem Jahr auf einen Oscar hoffen kann. Und mit jedem Tag steigt die Spannung. Fest steht, dass „Poor Things“ ganz oben mitmischen wird. Die Sci-Fi-Komödie des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos um eine junge Frau, die vom Tod erweckt wird und das Leben entdeckt, gewann als klarer Favorit die diesjährige Mostra di Cinema in Venedig. Die Kritiker sprechen unisono von einem der besten Filme, wenn nicht dem besten Film des Jahres, fast schmerzhaft originell, wagemutig, frech, provozierend und zu Recht mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Neben Lanthimos und Hauptdarstellerin Emma Stone gilt auch Willem Dafoe als Oscar-Kandidat. Beim Filmfestival Marrakech gab es die erste Gelegenheit, mit dem 68-jährigen chamäleonesken Charakterdarsteller über das wilde Meisterwerk zu sprechen, das seit 18. Jänner in unseren Kinos bestaunt werden kann.

Mr. Dafoe, hatten Sie bereits während des Drehens eine Ahnung, wie einzigartig dieser Film sein würde?

Willem Dafoe: Nein. Aber ich kannte die Arbeit von Yorgos Lanthimos, dann war das Drehbuch ein Traum, und auch der Prozess des Drehens selbst machte große Freude. Ich konnte also meine Kästchen abhaken. Dieser Film hat so viele Besonderheiten, dass ich mich wirklich freue, dass er bisher so viel Applaus bekam. Aber erst, wenn er für das Publikum zugänglich ist, wird man sehen, wie er in den einzelnen Ländern ankommt.

Was genau begeistert einen eingeweihten Mitwirkenden wie Sie?

Erst einmal die Hauptfigur aus Alasdair Grays wunderbarer Romanvorlage: Bella Baxter hat den Körper einer Frau, aber das Hirn eines Kindes. Das macht sie zu einem Menschen, der rasant schnell lernt und der keine gesellschaftlichen Konventionen oder Kompromisse kennt. Sie ist völlig unschuldig und zugleich der weiseste Mensch der Welt. Sie durchschaut vieles und spricht treffende Wahrheiten aus. Sie nennt die Dinge einfach beim Namen. Der Humor und die Tiefe des Films rühren daher, dass wir entdecken, welche Beschränkungen wir uns auferlegen lassen und akzeptiert haben, ob in der Liebe, der Sexualität oder anderen Bereichen. Es ist ein Film, der Spaß macht, aber auch richtig Zähne zeigt.

„Poor Things“ ist darstellerisch und visuell eine Wucht. Wie machten Sie sich die schräge Welt Ihres Wissenschaftlers Godwin Baxter zu eigen, samt seiner skurrilen Ideen und seinen Eigenkreaturen wie einem Bulldogge-Hahn-Mischling?

Die größte Hilfe bot mir das Drehbuch, weil die Welt von „Poor Things“ darin so vollständig und reich beschrieben war. Allein „mein“ Haus war so detailliert, dass ich oft durch die Kulissen spazierte, um die Kleinigkeiten zu bestaunen. Ich bin sowieso jemand, der gern auch in den Pausen am Set bleibt statt im Trailer zu sitzen. Lieber schaue ich der Crew über die Schulter, so gräbt man sich noch tiefer in die Geschichte hinein. Es gab viele Gegenstände, mit denen ich spielen konnte, Dinge, die mir verrieten, wie meine Figur zu sein hatte. Sie wurden „meine“ Gegenstände und halfen sehr, um diese künstliche Welt zu artikulieren.

Noch stärker als Ihr ausdrucksvolles Make-up? Ihr Gesicht ist von Narben und Nähten gezeichnet, mit verschobenen, kubistischen Gesichtszügen wie von Picasso.

Natürlich ist das Make-up eine grandiose Maske, in jedem Sinn. Wenn ich stundenlang im Make-up-Stuhl sitze, sehe ich zu, wie ich immer mehr verschwinde und wie immer mehr jemand anders zum Vorschein kommt. Das hilft mir sehr beim Vortäuschen: Wenn du nicht aussiehst wie du selbst und dich anders fühlst, musst du jemand anders sein.

Sie spielen den Chirurgen und Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter, der die Tote zum Leben erweckt hat. Geist und Körper sind bei seinem Experiment noch nicht kongruent, die junge Frau ist triebgesteuert, unberechenbar und neugierig, das Leben zu entdecken. Was für eine Vorbereitung erforderte die Rolle als Wissenschaftler, der an Frankenstein erinnert?

Ich musste lernen, all das zu tun, was Baxter als Chirurg so tut. Also war ich in einer Leichenhalle und habe von einem Spezialisten gelernt, wie man fachkundig Schnitte macht und näht. Das klingt etwas daneben. Auch wenn wir sein Handwerk nicht so genau sehen, half mir dieses Training, um in den Szenen effizient zu sein und mich selbst zu überzeugen, dass ich durchaus den Chirurgen gut vortäuschen kann.

Gab es ein Vorbild für Ihren genialen Monster-Gott?

Ich schaute mir ein Video des verstorbenen Romanautors an: Es stellte sich heraus, dass Alastair Gray ein echter Exzentriker war. Er sprach schon auf sehr manierierte, seltsame Art. Er inspirierte mich, eine besondere Sprechweise für den verunstalteten Baxter zu entwickeln.

Bella ist ein sehr sexuelles Wesen, ohne jegliche gesellschaftliche Prägung und daher völlig schamlos. Ist „Poor Things“ auch in der Hinsicht erfrischend?

Ich meine, der Sex in „Poor Things“ ist eher Gesellschaftskritik in Steno-Form! Er ist nicht explizit als Sex gemeint.

Lanthimos versteht es, sehr eigene Welten zu schaffen, bei Kostümen oder Szenenbildern. Wie sehr spielt Ihnen das in die Hand, um sich in einer Figur zu verlieren?

Es gibt mir alles. Und ist das Beste, was ein Regisseur tun kann. Mir bringt es nichts, wenn ein Regisseur die Psycho-Karte zieht und mir zuraunt: „Erinnere dich an deine Mutter.“ Die besten Regisseure – jedenfalls die, die mich faszinieren – sind die, die ein durchdachtes Universum erschaffen. Wenn der Schauspieler diese Welt betritt, sagt sie ihm, was er zu tun hat. Das funktioniert. Ich reagiere einfach auf die Dinge, die im Raum sind, arbeite mit den Gegenständen, lasse mich von ihnen beeinflussen. So liebe ich zu arbeiten.

Ist das Ihre individuelle Arbeitsweise?

Viele Regisseure sind auf eine Sache fixiert: Wie sie drehen, wie die Story sich entwickelt oder was die Psychologie ausmacht. Yorgos aber ist das ganze Paket: Er weiß viel über das Tanzen, Kunst, Fotografie, Architektur, hat ein extrem breites Wissensspektrum und durchdenkt jedes Detail sorgfältig mit seinen Spezialisten. Wenn du seine durchdachte Welt betrittst, wirst du unweigerlich Teil von dieser Welt. Das ist enorm befreiend. Dann gehst du mit. Dann passiert etwas mit dir. Dieser Film hat genau diese Energie entwickelt.

STECKBRIEF

Mit „Poor Things“ („Arme Dinger“), einem britischen Spielfilm aus 2023, bringt sich der US-Schauspieler Willem Dafoe ins Oscar-Rennen ein. Dafoe, Jahrgang 1955, machte erstmals im Vietnam-Drama „Platoon“ (1986) von sich reden. Er ist überaus wandelbar. Und war im Lauf der Jahrzehnte in Dutzenden Streifen zu sehen, etwa in „Die letzte Versuchung Christi“, „Der englische Patient“, „Speed 2“, „Spider-Man“ oder „Grand Budapest Hotel“.

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