Liberal betrachtet

Was in der Rede von Kanzler Nehammer gefehlt hat

Mehr als ein Drittel der Wähler sind der ÖVP bereits wortlos davongelaufen. Da muss sich Nehammer mehr einfallen lassen als ein paar solide Softthemen in einer Zukunftsrede.

Bundeskanzler Karl Nehammer hat seine Zukunftsrede gehalten. Gegen das, was er in dieser Rede gesagt hat, kann man inhaltlich gar nicht viel einwenden. Brav, aber harmlos. Leistung, Sicherheit, Familie sind wichtig. Richtig. Problematisch an der Rede war das, was nicht gesagt wurde. Nach den eingeräumten Covid-Fehlern, denen Nehammer eine ganze Pressekonferenz gewidmet hat, hätte man sich mehr erwarten können.

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So hat es Nehammer verabsäumt, sich bei den Wählern für die verfehlte ÖVP-Politik der letzten Jahre zu entschuldigen. Er hätte sich für die zunehmende Alimentationsmentalität entschuldigen sollen. Er hätte sich entschuldigen sollen, dass das Budgetdefizit im Wahljahr weiter in die Höhe getrieben worden ist. Er hätte sich entschuldigen sollen, dass die ÖVP vor jeder Pensionsreform die Augen verschließt. Er hätte sich entschuldigen sollen, dass das Wort Privatisierung im Sprachschatz der ÖVP gar nicht mehr vorkommt.

Er hätte sich entschuldigen sollen, dass die freien Berufe von der ÖVP völlig ignoriert werden. Er hätte sich für die Abkehr von Marktwirtschaft und Vertragsfreiheit entschuldigen können. Er hätte sich bei den Vermietern entschuldigen sollen, dass er beim gesetzlichen Eingriff in bestehende Mietverträge mitgemacht hat. Er hätte sich dafür entschuldigen sollen, dass er die Wertsicherungsklauseln ökonomisch verstümmelt hat. Er hätte sich dafür entschuldigen sollen, dass die ÖVP ein einseitiges Provisionsverbot bei Mietverträgen mitbeschlossen hat. Er hätte sich dafür entschuldigen sollen, dass immer von einer Abschaffung der kalten Progression die Rede ist, obwohl nur zwei Drittel abgeschafft worden sind.

Er hätte sich dafür entschuldigen sollen, dass der Finanzminister bei einer nunmehrigen Inflation von über sechs Prozent an der „abgeschafften“ Progression besser verdient als seinerzeit bei einer Inflation von zwei Prozent mit kalter Progression. Er hätte sich dafür entschuldigen sollen, dass die ÖVP den Kontakt zur Intelligenz verliert und zu viele Leistungsträger dieses Land bereits verlassen.

Schließlich hätte sich Nehammer entschuldigen sollen, dass sich die ÖVP koalitionsstrategisch in eine Zwickmühle manövriert. Auf der einen Seite schließt sie Vermögens- und Erbschaftsteuern, auf der anderen Seite eine Zusammenarbeit mit der Kickl-FPÖ aus. Will die ÖVP nicht in der Opposition verschwinden, wird sie sich entweder für eine Leichtversion der Vermögens- und Erbschaftsteuern oder eine Leichtversion mit der Kickl-FPÖ entscheiden müssen.

Waren in den letzten Jahren die Grünen der Grund für die vulgärsozialistische Politik der ÖVP, wird es in Zukunft eine andere Partei sein. Wer soll bei solchen Aussichten eine Partei wählen, die im Dezember dem Mietenmarkt in die Parade fährt und im Jänner mehr Markt fordert?

Die Mittelschicht ist verärgert. Mehr als ein Drittel der Wähler sind der ÖVP bereits wortlos davongelaufen. Da muss sich Nehammer mehr einfallen lassen als ein paar solide Softthemen in einer Zukunftsrede. Demokratie bedeutet auch, Wahlen zu gewinnen. Die ÖVP braucht daher eine radikale Wende zu einer neuen Glaubwürdigkeit. Sie muss mit der Vergangenheit brechen: personell, inhaltlich, taktisch und PR-mäßig.

Dr. Georg Vetter (*1962) ist Anwalt und Präsident des Clubs Unabhängiger Liberaler. Er war Mitglied des Team Stronach, wechselte 2015 in den Parlamentsklub der ÖVP und schied 2017 endgültig aus dem Nationalrat aus.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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