Der ökonomische Blick

Zentralbanken stecken in der Bredouille – gibt es eine Lösung?

EZB-Präsidentin Christine Lagarde.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde.Reuters/Kai Pfaffenbach
  • Drucken
  • Kommentieren

Die Zinswende, mit der die Inflation bekämpft werden soll, hat unerwünschte Folgen: Die Zentralbanken müssen Milliarden an die Banken zahlen.

Die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Zentralbanken (NZB) stecken in der Bredouille, denn die Zinswende, mit der die Inflation bekämpft werden soll, hat unerwünschte Folgen: Die Zentralbanken müssen Milliarden an die Banken zahlen. Infolge der umfangreichen Anleihekaufprogramme der EZB und der NZB seit 2015 haben die Banken große Mengen an Bankreserven angesammelt. Diese werden nun mit einem Zinssatz von vier Prozent verzinst. Das Ergebnis ist, dass die EZB und die NZB nun jährlich 140 Milliarden Euro an die Banken der Eurozone überweisen. Dies hat unweigerlich zu großen Verlusten bei der EZB und den NZB geführt und könnte nunmehr dazu führen, dass die EZB und (einige) NZB mit negativem Eigenkapital arbeiten müssen, was wiederum die Frage aufwirft, ob dies wirtschaftlich und rechtlich möglich ist. Wir widmen uns dieser Frage im Detail.

Was ist „Der ökonomische Blick“?

Jede Woche gestaltet die Nationalökonomische Gesellschaft (NOeG) in Kooperation mit der „Presse“ einen Blogbeitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften.

Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der „Presse“-Redaktion entsprechen.

>>> Alle bisherigen Beiträge

Das Kapital der EZB wird ausschließlich von den NZB gehalten. Gemäß Artikel 40 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB-Satzung) legt der Rat der EU (d. h. die Mitgliedstaaten) den Höchstbetrag fest. Der EZB-Rat kann eine Kapitalerhöhung innerhalb der von den Mitgliedstaaten im Rat der EU festgelegten Obergrenze beschließen (Art. 28.1. ESZB-Satzung). Nur mithilfe eines gemeinsamen Beschlusses können die Mitgliedstaaten das Kapital der EZB über diese Grenze hinaus weiterhin erhöhen. In der ESZB-Satzung ist auch festgelegt, wie die Gewinne der EZB zu verteilen sind. Im Gegensatz dazu entscheiden die Mitgliedstaaten autonom darüber, wie die Gewinne ihrer Zentralbanken verteilt werden. Dabei ist es nicht unüblich, diese in die Bundeshaushalte fließen zu lassen. 

Nationale Haushalte belastet

Dies verdeutlicht auch, weshalb die Frage der Zentralbankgewinne und -verluste in jüngster Zeit so relevant geworden ist: In der jüngeren Vergangenheit erhielten die Regierungen der Mitgliedstaaten umfangreiche Transfers durch ihre NZB, welche nun wegfallen, was wiederum die nationalen Haushalte belastet. Darüber hinaus haben die hohen Verluste der NZB die Frage nach einer möglichen Rekapitalisierung der Zentralbank aufgeworfen. So sieht Artikel 33 der ESZB-Satzung vor, dass bis zu 20 Prozent der Gewinne der EZB dem allgemeinen Reservefonds zugeführt werden können, dessen Gesamtbetrag 100 Prozent des Kapitals der EZB nicht überschreiten darf. Dieser Fonds kann zum Ausgleich von Verlusten der EZB verwendet werden. Die übrigen Gewinne der EZB werden an die NZB entsprechend ihren eingezahlten Anteilen verteilt. Sollten die im allgemeinen Reservefonds verfügbaren Mittel nicht ausreichen, um die Verluste der EZB auszugleichen, können die monetären Einkünfte des betreffenden Jahres auf Beschluss des EZB-Rates „im Verhältnis und bis in Höhe der Beträge (…), die nach Artikel 32.5 an die nationalen Zentralbanken verteilt werden“ (Art. 33.2 ESZB-Satzung), verwendet werden, um die Lücke zu schließen.

Die EU-Verträge sagen jedoch nichts darüber aus, ob die EZB mit negativem Eigenkapital arbeiten kann (oder nicht). Es muss daher davon ausgegangen werden, dass es der EZB rechtlich möglich ist, mit negativem Eigenkapital zu arbeiten. Auch eine automatische Rekapitalisierung ist nicht vorgesehen. Sollte die EZB also weiterhin Verluste machen, könnte sie rechtlich gesehen mit negativem Eigenkapital arbeiten, ohne dass die Regierungen der Mitgliedstaaten die EZB über ihre NZB rekapitalisieren müssen. Da die EU verpflichtet ist, die Verfassung ihrer Mitgliedstaaten zu respektieren, ist es auch Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats zu entscheiden, ob seine NZB mit negativem Eigenkapital arbeiten darf. Nur sehr wenige von ihnen – zu denen Österreich nicht gehört – haben sich für eine automatische Rekapitalisierung entschieden. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es kein Problem, mit negativem Eigenkapital zu arbeiten, wie die früheren Erfahrungen der Bundesbank zeigen. Zentralbanken brauchen im Gegensatz zu Geschäftsbanken kein Eigenkapital, um erfolgreich zu arbeiten.

Gelegentlich wird behauptet, dass die Unabhängigkeit einer Zentralbank durch negatives Eigenkapital gefährdet sein könnte. Die Unabhängigkeit des Zentralbankensystems ist in den EU-Verträgen verankert (Artikel 130 EUV). Die EZB hat die Zentralbankunabhängigkeit als aus vier Dimensionen bestehend definiert: funktionale, institutionelle, persönliche und finanzielle Unabhängigkeit. Beeinträchtigt negatives Eigenkapital nun die Unabhängigkeit einer Zentralbank? Wir sind der Meinung, dass dies nicht der Fall ist, weder rechtlich noch wirtschaftlich. Wie bereits gesagt, können Zentralbanken negatives Eigenkapital haben. Rechtlich gesehen gäbe es nur ein Hindernis dafür, nämlich wenn die finanzielle Unabhängigkeit einer NZB in den Augen der EZB gefährdet wäre, d. h. wenn die EZB der Ansicht wäre, dass die betreffende NZB nicht in der Lage ist, ihre Aufgaben im Rahmen des ESZB zu erfüllen. Aus diesem Grund hat die EZB in der Vergangenheit die Auffassung vertreten, dass eine Rekapitalisierung erfolgen sollte, wenn das Eigenkapital einer NZB über einen „längeren Zeitraum hinweg unter der Höhe ihres satzungsmäßigen Eigenkapitals liegt oder sogar negativ ist“. Sollte dies jedoch in naher Zukunft der Fall sein, würde die EZB wahrscheinlich ihre Auslegung ändern und stattdessen verlangen, dass die NZB nur dann rekapitalisiert wird, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre Aufgaben im Rahmen des ESZB zu erfüllen. Daher erscheint ein solches Szenario als besonders unwahrscheinlich. 

Negatives Eigenkapital (zu Unrecht) in der Kritik

Es könnte jedoch sein, dass negatives Eigenkapital aufseiten der NZB auf Kritik stößt, weil man (zu Unrecht) der Meinung ist, dass negatives Eigenkapital die Geschäfte der Zentralbank und damit ihre Glaubwürdigkeit beeinträchtigt. Wenn dies der Fall ist, können die Regierungen die Zentralbank rekapitalisieren. Eine solche Rekapitalisierung wäre jedoch ein rein buchhalterischer Vorgang ohne fiskalische Auswirkungen und würde implizieren, dass die Regierung Anleihen auf der Aktivseite der Bilanz der Zentralbank hinterlegt. Dadurch kann die Zentralbank ihr Eigenkapital (die Passivseite ihrer Bilanz) um den gleichen Betrag erhöhen. Ein solcher Vorgang hat keine fiskalischen Auswirkungen, da die Zinsen, die der Staat für die von den Zentralbanken gehaltenen Anleihen zahlt, in Form von Zentralbankgewinnen an den Fiskus zurückfließen. In diesem Fall könnte die finanzielle Unabhängigkeit in Gefahr geraten und somit der Grund dafür sein, dass die EZB die Rekapitalisierung einer NZB verlangt. Die finanzielle Unabhängigkeit setzt nämlich voraus, dass die NZB über ausreichende Mittel verfügen, um ihre Aufgaben im Eurosystem zu erfüllen. Anders ausgedrückt: Im Prinzip könnten sowohl die EZB als auch die NZB mit negativem Eigenkapital arbeiten, ohne dass dies aus rechtlicher Sicht ein besonderes Problem darstellen würde; sollte jedoch die finanzielle Unabhängigkeit einer NZB gefährdet sein, könnte die EZB ihre Rekapitalisierung verlangen.

Während das Vorhandensein von negativem Eigenkapital weder rechtlich noch wirtschaftlich ein Problem darstellt, ist die Tatsache, dass die Zentralbanken in der Eurozone nun ihre gesamten Gewinne (und mehr) an die Geschäftsbanken abführen, ein ernstes Problem. Für eine solche Großzügigkeit gegenüber den Banken gibt es kein gutes wirtschaftliches Argument. Die Gewinne der Zentralbanken sollten an die Regierungen gehen, die den Zentralbanken das Monopol zur Ausgabe von Geld übertragen haben. Diese Gewinne sollten nicht an private Akteure übertragen werden.

Die Autor:innen

Joao Pedro Correia

Paul De Grauwe hält den John-Paulson-Lehrstuhl an der London School of Economics and Political Science. Er erhielt seinen Doktortitel 1974 von der Johns Hopkins University. Sein Hauptforschungsinteresse gilt der Wirtschaft der Währungsunion. In jüngster Zeit hat er sich auf die verhaltensorientierte Makroökonomie konzentriert.

beigestellt

Diane Fromage ist Professorin für Europarecht und Stellvertretende Leiterin des Salzburg Centre of European Union Studies (SCEUS) an der Universität Salzburg. Ihre Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf die europäische Wirtschafts- und Währungsunion, insb. die Bankenunion. 

Diese und andere aktuelle Fragen im Bereich der EU-Wirtschafts- und -Währungsunion wurden von den Autoren und anderen Kollegen anlässlich des Workshops über neue und aktuelle Fragen der WWU diskutiert, der im November 2023 am Salzburger Zentrum für EU-Studien (SCEUS) im Rahmen des Jean-Monnet-Exzellenzzentrums EUCHALLENGES (kofinanziert von der Europäischen Kommission unter der Finanzhilfevereinbarung 101127539) organisiert wurde. Der Beitrag stellt die deutsche Übersetzung dar.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.