Die Ich-Pleite

Eigene Kinder? Mir reichen die vom Nachbarn

Carolina Frank
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Ich brauche keine Kinder, um die wichtigsten Entwicklungsphasen mitzubekommen.

Wenn mich jemand fragt, ob ich Kinder habe, antworte ich immer: „Sicher!“ Ich bin nur durch einen dünnen Altbauplafond von ihnen getrennt. Mein Haus ist sehr beliebt bei Jungfamilien. Vermutlich wegen der Nähe zum Park. Als Eltern von Kleinkindern dürfte ein Park, sprich: Kinderspielplätze und keine Autos, mindestens so wichtig sein wie ein kindergartenschließzeitenfreundlicher Chef oder eine nette Leihomi. Jedenfalls sehe ich meine Nachbarn tagein, tagaus kinderwagenschiebend, kinderradtragend und Kind-hinter-sich-her-ziehend in den Park hinein- oder wieder herausmarschieren.

Ich brauche keine eigenen Kinder, um die wichtigsten Entwicklungsphasen eines Kindes mitzubekommen. Die Phase, wo sie laufen lernen, die Phase, wo sie lernen, auf dem Boden aufzustampfen, mit Möbeln um sich zu werfen, ihre Stimme zu trainieren oder ihre Geschwisterchen zu erwürgen. Jedenfalls hört es sich so an. Wenn sie langsam in ein Vernunftalter hineinwachsen, wird es plötzlich schlagartig still über mir. Das liegt auch daran, dass die Jungfamilien dann meistens wegziehen. Ich weiß nicht, warum. Haus geerbt, Scheidung oder weil sie die Stille nicht ausgehalten haben. Aber kaum habe ich die Ohropax wieder aus den Ohren genommen, zieht eine neue Jungfamilie ein, und das Ganze beginnt von vorn.

Aber später, wenn die Kinder ihre elterlichen Wohnungen verlassen, ziehen sie wieder bei mir ein. In die Wohnung unter mir. Weil Parterre ist billig und die Feuchtigkeit ist einem da noch egal. Ich habe das Gefühl, die Belegschaft wechselt semesterweise. Aber alle machen dasselbe. Musik hören und Hochbetten zimmern. In denen sie bald Jungfamilien gründen und dann in die Wohnung über mir ziehen. Es ist ein ewiger Kreislauf.

 (Die Presse Schaufenster, 16.2.2023)

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