Premiere

Grunzen und Krächzen an der Staatsoper: Dramatische „Farm der Tiere“

Die in höchsten Tönen wiehernde Stute Mollie (Holly Flack), stets um ihren Vorteil bedacht, kollaboriert mit dem verschlagenen Nachbarn Pilkington (Clemens Unterreiner).
Die in höchsten Tönen wiehernde Stute Mollie (Holly Flack), stets um ihren Vorteil bedacht, kollaboriert mit dem verschlagenen Nachbarn Pilkington (Clemens Unterreiner).Staatsoper/Michael Pöhn
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Alexander Raskatovs „Animal Farm“ nach George Orwell ist musikalisch eine anspielungsreiche, hochtourige Groteske, die Damiano Michieletto werkdienlich in Szene setzt. Alexander Soddy am Pult koordiniert souverän den orchestralen Soundtrack mit allerlei schriller Vokalakrobatik: einhelliger Jubel.

Nichts ist so unvorhersehbar wie die Vergangenheit“: In der Sowjetunion hat man sich diesen Satz als Witz erzählt – mit gutem Grund. Wie sehr die Umdeutung und Fälschung von zuvor als unumstößlich verkündeten Postulaten im real existierenden Kommunismus gang und gäbe war, davon erzählte schon George Orwells 1945 erschienene Novelle „Animal Farm“ in Gestalt einer Fabel. Darin zetteln bekanntlich ausgebeutete Hoftiere eine Revolution gegen ihren Bauern an, doch die erlangte Selbstbestimmung mündet in neue Unterdrückung. Das Grundgesetz: „Alle Tiere sind gleich“, pervertiert durch den Zusatz: „aber einige sind gleicher“, gehört zu den berühmtesten Sätzen der Literatur des 20. Jahrhunderts.

Bei aller analytischen Schärfe begegnet der Sozialist Orwell den Geknechteten dabei voller Mitgefühl. In der Opernversion des Stoffes, einem Auftragswerk der Dutch National Opera und der Staatsoper, ist dieses Element zurückgedrängt: Stattdessen herrscht ein Zug ins Groteske, Überspitzte, ja zur Farce – schon im englischsprachigen Libretto, das von Ian Burton und dem Komponisten Alexander Raskatov verfasst wurde, vor allem aber in dessen Musik. Und auch in Damiano Michielettos Regie: Die Uraufführungsproduktion, die in Amsterdam am 3. März 2023 über die Bühne ging, feierte nun im Haus am Ring mit einer teils neuen Besetzung Premiere – und wurde ähnlich begeistert aufgenommen wie dort. Bei allem optischen Heranzoomen an die Gegenwart: Auf direkte Putin-Anspielungen wird verzichtet, durchaus zum expressiven Vorteil des Ganzen.

Ekzentrische, energetische Musik

Lachen sei die letzte Phase der Verzweiflung, hat Raskatov einmal gesagt. Er weiß, wovon er redet. 1953, am Tag von Stalins Begräbnis, wurde er in Moskau in eine russisch-jüdische Familie hineingeboren; ein Großvater war einst jahrelang in einem Gulag inhaftiert. Nach dem Ende der Sowjetunion ging Raskatov in den Westen. Seine stilistische Maxime wird, wie er selbst sagt, von „3 E“ bestimmt: „Eccentricity, Exaggeration, Energy“. Exzentrisch kann man an Raskatovs Musik jedenfalls finden, dass sie sujetbedingt zu einem großen Teil aus lautmalerisch-kreativen Nachbildungen und musikalischen Überhöhungen von allerlei Tiergeräuschen besteht: Es meckert und grunzt, krächzt und wiehert, gackert und blökt also unter der trefflichen Leitung von Alexander Soddy auf immer wieder täuschend echt wirkende Weise – auch über Lautsprecher, denn das komplette Instrumentarium hat gar nicht Platz im Graben.

Ein enormes Schlagwerkarsenal leistet einen erheblichen Anteil an dieser pittoresken Tonspur. Die Musik beißt sich oft fest, an schneidenden Streicherakkorden oder mehrfach wiederholten Motiven. Hin und wieder breitet sie inmitten dauernder Exaltiertheit auch emotionale Zustände aus, am Beginn des zweiten Akts etwa Angst und Schrecken. Eine weitere Ebene bilden Zitate und Anspielungen, die aber nicht ständig hervorstechen und zum Eindruck einer Collage führen, sondern vielfach versteckt eingearbeitet sind: Nur selten treten sie so griffig hervor wie das Finale von Schostakowitschs Fünfter oder „Casta Diva“. Tonale Anklänge sind also keineswegs verpönt – doch Vorsicht: Gerade dann, wenn die Harmoniefolgen herkömmlichen Halt zu bieten vorgeben, wird immer wieder gelogen, dass sich die Balken biegen.

Für groteske Übertreibungen fühlt sich auch Michielettos Inszenierung zuständig, zumal Bühnenbildner Paolo Fantin das Geschehen vom Bauernhof gleich in einen Schlachthof verlegt, wo die Protagonisten ihre Tiermasken (Klaus Bruns) bald ablegen und ihre „Menschlichkeit“ offenbaren.

Raskatov kann sich auf eine Schar Getreuer verlassen, für deren vokalakrobatische Fähigkeiten er schon mehrfach komponiert hat. Gennady Bezzubenknov etwa gibt den Eber Old Major, der den Tieren seinen Traum von einem gerechten Leben schildert und in Bassestiefen grundelt. Ansonsten sind immer wieder extreme Höhen verlangt – von der eitlen, selbstsüchtigen Stute Mollie ganz besonders: Holly Flack nestelt ihrer Mähne, lässt die Beine spielen und turnt dabei virtuos durch die Stratosphäre über der Königin der Nacht.

Trotzki versus Stalin

Elena Vassilieva ist die Krächzpartie des zwielichtigen Raben Blacky auf den Leib geschrieben, Andrei Popov fistelt mit schauerlicher Kraft den Squealer (Geheimdienstchef Beria), Countertenor Karl Laquit erklimmt als Esel Benjamin und Miss-Piggy-artige Young Actress atemberaubende Gipfel. Und Michael Gniffke ist sich als Snowball (Trotzki) nur anfangs mit Napoleon (Stalin) so einig, dass sie im Reißverschlusssystem sprechen können: Wolfgang Bankl, bald sein Todfeind, steuert in dieser zentralen Partie ein glaubwürdig gefährliches Phlegma bei. Auf seinen Wink wird auch Stefan Astakhov als braver Hengst Boxer, das Sinnbild der Arbeiterklasse, nach seinem Zusammenbruch dem Abdecker überantwortet: „Person – problem, no person – no problem“ lautet Napoleons Devise. Der mitfühlenden Stute Clover (Margaret Plummer) und der Ziege Muriel (Isabel Signoret) bleibt nur das verständnislose Staunen darüber, wie sich die Vergangenheit unvorhersehbar verwandelt.

Die hohe Energie des kurzweiligen, mit Pause knapp zweieinhalbstündigen Abends, an der auch die Chöre aller Altersstufen ihren Anteil haben, liegt vor allem im ständigen dramatischen Vorwärts und den kaleidoskopischen Farbwechseln der Partitur: Für ausgedehnte orchestrale Zwischenspiele etwa, die in der Moderne eine eigene Tradition bilden, nimmt sich Raskatov keine Zeit: „All this can happen every day“, mahnt der Epilog.

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