Bericht

Antisemitismus steigt dramatisch

Wienerinnen und Wiener demonstrieren gegen den Angriff der Hamas im Oktober 2023.
Wienerinnen und Wiener demonstrieren gegen den Angriff der Hamas im Oktober 2023. AFP/Joe Klamar
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Die Zahl antisemitischer Vorfälle hat sich vervielfacht, vor allem via Social Media, aber es kommt auch öfter zu tätlichen Angriffen – etwa unter Teenagern.

Der 7. Oktober war eine Zäsur. In vielerlei Hinsicht, aber auch, was das ganz alltägliche Leben von Jüdinnen und Juden in Österreich betrifft. „Sie alle wissen, was am 7. Oktober passiert ist, eine Terrororganisation hat 1200 Menschen, Kinder, Frauen, Ältere, auf brutalste Art und Weise getötet und mehr als 200 Geiseln, Juden und Araber, verschleppt. Diese Terrororganisation hält noch mehr als 130 Geiseln in Haft, aber sie hält auch zwei Millionen Palästinenser in Geiselhaft“, sagt Oskar Deutsch, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG). Und seither sei in seiner Gemeinde, so Deutsch weiter, „die Leichtigkeit verschwunden“.

Jüdinnen und Juden in Österreich sehen sich, wie in ganz Europa, einem dramatischen Anstieg antisemitischer Vorfälle gegenüber, das weist nun der Jahresbericht der Antisemitismus-Meldestelle deutlich aus.

„Explosionsartiger Trend“

Benjamin Nägele, der Generalsekretär der IKG Wien und Leiter der Meldestelle, spricht von einem „Negativrekord“, einer Häufung von Vorfällen in einem „noch nie da gewesenen Ausmaß“: 2023 wurden bei dieser Meldestellt 1147 antisemitische Vorfälle verzeichnet, ein absoluter Höchststand. 2023 stellt damit selbst das von der Coronapandemie und damit verbundenen Demos und antisemitischen Verschwörungstheorien geprägte Jahr 2021 (965 Vorfälle) in den Schatten. Der heurige Wert stellt den höchsten seit Beginn der Erfassung 2008 dar. „Man muss den Bericht aber in zwei Teile teilen. Es gibt die Zeit bis zum 7. Oktober und die Zeit danach“, so Deutsch.

Gezählt werden Vorfälle von tätlichen Angriffen bis zu Social-Media-Postings, die gemeldet werden. Die Zahl der Angriffe stieg 2023 von 14 auf 18, das inkludiert jede Form des physischen Angriffs auf Menschen oder Gebäude. Nägele nennt als Beispiele etwa den Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs, bei dem die Zeremonienhalle ausgebrannt ist. Oder einen Vorfall, bei dem Jugendliche, als Jüdinnen und Juden erkennbar, zuerst aus einem Auto heraus beschimpft wurden; auch „Free Palestine!“ rief man ihnen entgegen. Dann habe, wie Nägele erzählt, das Auto angehalten, mehrere Personen haben die Jugendlichen umzingelt, auf sie eingeschlagen und erst von ihnen abgelassen, als Anrainer aus dem Fenster gedroht haben, die Polizei zu rufen.

Stärkster Anstieg auf Social Media

In der Kategorie der Bedrohungen, der schriftlichen oder mündlichen Androhungen konkreter physischer Gewalt, ist im Vorjahr die Zahl von 21 auf 18 zurückgegangen, die Fälle von Sachbeschädigung stiegen von 122 auf 149, Vorfälle von „verletzendem Verhalten“ stiegen von 222 auf 426, am stärksten aber war der Anstieg in der Kategorie Massenzuschriften: Hier wurden nach 140 Vorfällen 2022 im Vorjahr 536 Fälle verzeichnet. Darunter fallen etwa Social-Media-Beiträge.

Hier wurde 2023, besonders in den drei Monaten ab Oktober, ein „explosionsartiger Trend“ verzeichnet. Wie in ganz Europa, wo sich die Zahlen der antisemitischen Vorfälle verhundertfacht, zum Teil vertausendfacht hätten, wie Nägele sagt. Betrachtet man die Verteilung über das Jahr, wurden bis zum 7. Oktober im Schnitt 1,55 antisemitische Vorfälle pro Tag registriert. Ab 7. Oktober waren es dann statistisch 8,3 Vorfälle pro Tag. Mehr als eine Verfünffachung gegenüber den ersten neun Monaten 2023.

Nägele spricht von einer Zäsur. Jüdinnen und Juden legen jüdische Symbole ab, nehmen nicht mehr an Veranstaltungen teil, zeigen den Davidstern nicht mehr offen.

Täter wie Opfer werden jünger

Große Sorge bereitet vor allem der von Social Media befeuerte radikale Antisemitismus unter Jüngeren: Jüdische Schülerinnen und Schüler werden teilweise von Gleichaltrigen angegriffen. „Vor allem bei Übergriffen physischer Natur werden die Täter und Täterinnen immer jünger“, sagt Nägele. Hier habe ein überproportionaler Teil der Täter und Täterinnen muslimischen Hintergrund. Insgesamt seien laut dem Bericht ideologisch 34 Prozent der Fälle rechts, 18 links und 25 muslimisch motiviert gewesen.

Für 2024 gibt es noch keine Zahlen, aber eine Trendwende, ein Rückgang der Vorfälle, sei nicht in Sicht. Aktuell sei die Bedrohung nach wie vor groß. „Aber wir lassen uns nicht unterkriegen, das jüdische Leben findet statt, das lassen wir uns nicht nehmen“, sagt Oskar Deutsch.

Er berichtet aber auch von hohem Druck und mahnt angesichts der „Horrorzahlen aus aller Welt“: „Es geht nicht nur um uns Juden. Jetzt sind wir dran. Aber wenn der Hass, der Antisemitismus noch stärker werden, dann ist die Demokratie gefährdet. Wenn sich der Hass auf den Straßen durchsetzt, dann ist Leben, wie es bisher möglich war, nicht mehr möglich.“

In Zahlen

1147 antisemitische Vorfälle wurden 2023 bei der Antisemitismus-Meldestelle gemeldet. Das sind 18 physische Angriffe (2022: 14), 18 Bedrohungen (2022: 21), 149 Sachbeschädigungen (2022: 122), 536 Massenzuschriften (2022: 140) und 426 Fälle von verletzendem Verhalten (2022: 422).

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