Interview

„Bei Putin müssen die europäischen Gesellschaften auf das Schlimmste gefasst sein“

Putin Ende Februar bei seiner Rede zu Lage der Nation, auf einem vom Kreml veröffentlichten Bild.
Putin Ende Februar bei seiner Rede zu Lage der Nation, auf einem vom Kreml veröffentlichten Bild. Kremlin Press Office / Handout/Anadolu via Getty Images
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Der russische Politik-Experte Maxim Trudoljubow erklärt, warum an Putins Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Westen etwas Wahres dran ist. Die Revanche sei ein zentraler Bestandteil von Putins Denkens. Erbarmungslos sei der Kreml-Chef auch gegenüber der eigenen Elite, die aus dem Kriegsprojekt nicht mehr aussteigen könne.

Die Presse: Worauf gründet Putins Macht in der russischen Gesellschaft?

Maxim Trudoljubow: Es ist vor allem die Angst. Nicht direkt Angst vor Repressionen. Es ist die Angst vor Aufmerksamkeit, etwas laut auszusprechen. Die Meinung der Mehrheit ist: Ich kann sowieso nichts verändern. Wenn ich mich einmische, riskiere ich eine Verschlechterung für mich und meine Nächsten.

Ist das der lange Atem Stalins?

Die meisten Russen von heute haben die Stalin-Jahre nicht erlebt. Diese Einstellungen werden in den Familien weitergegeben. Außerdem haben die Menschen in den letzten drei Jahrzehnten gelernt, als Individuen zu leben. Die Gesellschaft ist sehr atomisiert, den Leuten fällt es leichter, zu schweigen, als sich für etwas einzusetzen.

Warum unterstützt die Elite Putin in allen Dingen? Sind hier dieselben Mechanismen am Werk?

Wenn wir über die Elite reden – Regierungsvertreter, hohe Beamte, das Führungspersonal der staatlichen oder staatsnahen Konzerne und der großen privatwirtschaftlichen Firmen, die Kirche, regierungsnahe Organisationen – dann gilt: Sie stehen unter ständiger Kontrolle. Wichtige Positionen werden nur mit Erlaubnis des FSB (russischer Inlandsgeheimdienst; Anm.) besetzt. Viele Elitenvertreter haben keine Auslandspässe mehr. Was Putin und sein enger Kreis überhaupt nicht mögen, ist öffentliche Kritik. Die wird bestraft. Also schweigen die Leute.

Publizist und Buchautor Maxim Trudoljubow
Publizist und Buchautor Maxim TrudoljubowKennan Institute

Das klingt wie ein Sektenverhalten.

Das könnte man sagen. Oder ein Minigulag im Gulag. Ein „Ausstieg“ kann Jahren dauern und musste auch früher sehr vorsichtig und schrittweise vorbereitet werden. Das System kann es nicht ertragen, wenn man Nicht-Einverstandensein mit der Politik des Präsidenten kundtut. Nach Kriegsbeginn wollten viele aussteigen, aber da war das schon so gut wie unmöglich. Die Strafen sind sehr streng. Das Mindeste ist ein Strafverfahren wegen Betrugs, doch es geht bis hin zu Morden.

Ausscheren ist riskanter als gehorchen.

Ja, und wohin sollen diese Leute? In Russland werden sie bestraft, aber im Westen wartet man nicht auf sie. Viele stehen unter Sanktionen und werden keinen Job in westlichen Konzernen finden. Oder glauben Sie, dass ein Gazprom-Manager bei der OMV Arbeit finden wird? Die Leute blieben auf ihren Posten. Nun begreifen sie, dass sie eigentlich Verbrecher sind. Manche sind eng involviert in die Finanzierung des Kriegs, andere weniger, aber alle machen sie mit. Er hat sich selbstverständlich mit niemandem von ihnen beraten, außer mit der engen Gruppe von Sicherheitsleuten. Für alle gilt nun: Die Entscheidung ist gefallen. Putin wollte genau das: Er wollte möglichst viele Menschen zu Komplizen seines Krieges machen.

Wie würden Sie die Persönlichkeit Putins charakterisieren?

Viele sagen, er sei ein Soziopath. Möglich, dass er eine äußerst unangenehme, abstoßende Person ist. Wichtiger ist aber: Er ist ein geborener Manipulator. Er weiß, wie man Menschen manipulieren muss, wie man Angst machen kann. Er ist ein gefährlicher und brutaler Mensch, der nicht bereit ist, irgendwelche Grenzen zu respektieren. Wichtig ist zudem, dass er ein Nachfahre der „außerordentlichen Macht“ ist (gemeint ist die TscheKa, Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage: sowjetische Geheimpolizei, Vorläufer des KGB, Anm.). Sie wurde von Lenin gegründet, um die Revolution zu verteidigen. Die TscheKa stand über dem Gesetz, ihr war alles erlaubt. Jetzt sorgen die Nachfahren dieser Struktur dafür, dass es keine Feinde des Regimes gibt.

Putin hätte auch ein blühendes Russland aufbauen können. Stattdessen hat er einen großen Krieg begonnen. Was ist seine innere Motivation?

Die historische Revanche spielt eine große Rolle. Er liest ja ständig Geschichtsbücher. Er ist das Sinnbild eines wenig gebildeten Menschen, der sich in die Geschichte vertieft hat. Geschichte ist eine sehr einfache Wissenschaft in dem Sinne, dass man leicht idiotische Schlüsse ziehen kann. Wenn man nur auf der Bank vor dem Haus sitzt und räsoniert, ist das kein Problem. Aber wenn so jemand an der Macht ist, dann kann das tragische Folgen haben. Und es ist umso erstaunlicher, als die russische Gesellschaft nicht unter ihrer Historie gelitten hat wie andere Nationen. Meine Generation hat nie darunter gelitten, dass die Ukraine sich angeblich von uns abwendet oder die Krim nicht unser ist. Putin hat sich das ausgedacht.

Als Putin seinen Artikel über die Ukraine im Jahr 2021 schrieb…

… haben wir das als Hobby eines alternden Menschen wahrgenommen. Als kranke Fantasie. Das war ein großer Fehler. Auch die russischen Eliten haben es nicht ernst genommen. Sie wollten ein blühendes Russland aufbauen, mit einer funktionierenden Zentralbank, einem zeitgenössischen Finanzministerium, effizienten Transportwesen. Niemand glaubte, dass er all das zum Einsturz bringen würde. Ich habe die Theorie, dass Putin Gesellschaften mit ernsthaften Problemen beneidete. Diese Gesellschaften können sich um eine Idee versammeln. In Russland gab es so etwas nicht. Dann hat er sich die Ukraine als Anti-Russland ausgedacht, um die Menschen um eine Idee zu scharen. Natürlich wollte er ursprünglich keinen langen Krieg, er wollte schnellen Erfolg. Jetzt ist das anders. Jetzt ist der Krieg das Zentrum allen Tuns, er soll jetzt die Gesellschaft einen.

Sieht Putin sich als historische Figur?

Es gibt das berühmte Zitat von Außenminister Sergej Lawrow, der kurz nach Kriegsausbruch auf die Frage antwortete, ob sich Putin mit ihm beraten habe: Putins drei Berater seien Iwan der Schreckliche, Peter der Große und Katharina die Große. Putin hat sich seit der Corona-Zeit sogar von der Elite entfernt.

Früher schien es, dass Putin normale Beziehungen zum Westen aufbauen wollte. Tickte er damals anders?

Ich glaube, er war schon immer ein Revanchist. Womöglich dachte er früher, dass man die Revanche mit sanfteren Methoden hinbekommt.

Was müssen Europa und die Ukraine nun erwarten?

Man muss davon ausgehen, dass er nicht aufhören wird. Wenn er genug Kraft hat, dann wird er über die Ukraine hinaus gehen. Für ihn gibt es keinen Weg zurück.

Die Grenzen der Nato sind nicht mehr gesetzt?

Im Westen wird ständig über die Schwäche der Armeen, zu geringe Verteidigungsbudgets und die mangelnde Hilfe für die Ukraine gesprochen. Putin sieht das alles. Er steht Gesellschaften gegenüber, die keinen Krieg wollen, die ihre Wirtschaft nicht auf den Krieg ausrichten wollen. Der Westen ist über so viele Dinge besorgt: Verringerung des Wohlstands, Preisanstieg, Migrationsproblematik. Steigende Ausgaben für die Verteidigung haben keinen Platz in der Debatte. Putin sieht, dass es für westliche Gesellschaften ein Riesending ist, die Ausgaben für Verteidigung nur um ein halbes Prozent zu erhöhen. Er hat dieses Problem nicht. Er hat die staatlichen Verteidigungsausgaben seit Kriegsbeginn einfach verdreifacht. Er denkt sich: Schaut, was ich kann! Das könnt ihr nicht! Die russische Armee ist natürlich schlechter aufgestellt und wurde bereits zur Hälfte in der Ukraine vernichtet. Nichtsdestotrotz macht er weiter. All das sind sehr ernsthafte Herausforderungen für die westlichen Gesellschaften. Westliche Regierungen müssten die Problematik ernster nehmen.

Sollte Trump Präsident werden, wird sich die Frage noch dringlicher stellen.

Jetzt kann Putin nicht die Nato angreifen. Aber die Situation ist dynamisch und ändert sich schnell. Was, wenn die USA unter Trump die Nato verlassen? Ist Europa darauf vorbereitet? Inwieweit können sich die europäischen Armeen verteidigen? Für Europa sind diese Fragen dringlich, denn Russland ist Europas Nachbar und es wird von komplett unverfrorenen Leuten regiert. Und hier regen sich die Menschen über die Migranten auf!

Wie gefährlich ist Putin für Europa?

Sehr gefährlich. Ich verstehe nicht, wie man glauben kann, man könne mit ihm reden. Er hat so viele Male bewiesen, dass man ihm nicht vertrauen darf. Irgendeine Kommunikation ist wohl unausweichlich. Aber die europäischen Gesellschaften müssen die Gefahr ernst nehmen. Sie müssen auf das Schlimmste gefasst sein und sich ausreichend um ihre Sicherheit kümmern.

Zur Person

Maxim Trudoljubov ist leitender Berater beim Kennan Institute, einem auf Russland spezialisierten US-Think-Tank, und verantwortet dort den Experten-Blog The Russia File. Ebenso ist der gebürtige Moskauer (geboren 1970) Redakteur beim russischen unabhängigen Medium Meduza. Darüber hinaus analysiert und kommentiert er für internationale Medien die Entwicklungen in Russland.

Von 2003 bis 2015 war Trudoljubow verantwortlich für die Kommentarseiten der russischen Wirtschaftstageszeitung Wedomosti. Er hat mehrere Bücher über Russland veröffentlicht.

Als Stipendiat des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) arbeitet er derzeit an einem Projekt über die Anpassung der russischen Eliten an den Krieg.

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