Und übrigens . . .

Ist das Wörtchen „ur“ vom Aussterben bedroht? Voll!

Beantworten Sie auch jede Frage mit einem gemütlichen, grundpositivistischen „voll“? Dann sind Sie jünger. Oder nicht aus Wien. Oder beides.

Selten in der Geschichte der Menschheit, wagen wir jetzt einmal zu sagen, kam man mit nur einem einzigen Wörtchen derart weit im täglichen Small Talk: „Hey, wie geht’s?“ „Voll!“ „Schönes Wochenende gehabt?“ „Voll!“ „Mit der ÖBB heimgefahren?“ „Voll!“ „Schon gefrühstückt?“ „Voll!“ Na dann, verdauen wir einmal.

»Die Vollwertszeit des Ur-Wieners ist absehbar.«

Die Redaktion der „Presse“, man ist geneigt zu sagen die Gesellschaft, spaltet sich mittlerweile – ungeachtet aller politischen Polarisierungen – immer stärker in zwei Lager, die sich verständnislos gegenüberstehen: in die, die jede Frage mit „voll“ beantworten. Und die, die das nie über die Lippen bringen würden. Die, wenn sie das Wort Vollgut lesen, nicht panisch die Leertaste ihrer Computertastatur bedienen, weil sie dächten, hier müsse ein Abstand fehlen. Sondern die ganz lässig zum Leergut greifen. Um ihre verpuffte Sodapatrone gegen eine frisch gefüllte zu tauschen. Zum Beispiel. Sie merken schon, zu welchem Lager hier tendiert wird.

Das hat mit dem Alter zu tun. Das kennt man, zumindest in Wien, schon von einem anderen, sogar noch knackigeren Wörtchen: Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger emanzipierte sich die Vorsilbe „ur“ zum Adverb. Und markierte nicht nur die archäologischen Schichten zwischen den Generationen innerhalb der Hauptstadt. Sondern auch den Ur-Graben – in der Schweiz heißt Ähnliches Rösti-Graben – zwischen dieser Hauptstadt und allem, das sie umzingelt, auch Provinz genannt.

Wer den Uhrturm in Graz schon einmal lauthals „ur toll“ und den oberösterreichischen Baggersee „ur cool“ rief, begab sich innerlich besser schleunigst in die Immigration. Wenn Blicke schon nicht töten können, tun sie manchmal zumindest ur weh. Kein Grund mehr zum Jammern. Das „ur“ wird sich biologisch erledigen, es stempelt einen mittlerweile nicht mehr nur als großkopferten Wiener, sondern als großkopferten Wiener einer ganz bestimmten, längst vergangenen, prä-digitalen Epoche ab, als eine Art Ur-Wiener, dessen Vollwertszeit absehbar ist.

Vielleicht ist die bundesweite Vervollkommnung also auch nur die von langer Hand geplante Einnahme Wiens durch Österreich. Wo man schon immer „vui“ zu „ur“ gesagt hat. Ein kleiner Nachruf hier also auf dieses „ur“, das doch in seiner Herkunft und seinem grammatikalisch grundfalschen Gebrauch viel exzentrischer war als das gemütliche, grundpositivistische „voll“. Die Melancholie eines halb leeren Glases ist nicht mehr vorgesehen. Voll.

E-Mails an: almuth.spiegler@diepresse.com

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