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Lebensform: „Interrail-Ticket“

In vollen Zügen. Was die Interrail-Generation europaweit an Kilometern hinter sich legte, verbringt ein Internet-Nerd heute auf deutschen Gleisen.  
In vollen Zügen. Was die Interrail-Generation europaweit an Kilometern hinter sich legte, verbringt ein Internet-Nerd heute auf deutschen Gleisen.  Imago / Arnulf Hettrich
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Wir waren die coolsten Analognomaden! Bevor Digitalnomaden wie Lasse Stolley auftauchten.

In früheren Zeiten schlief ich gern in Zügen. Destination: eh total gleich gültig. Lebensform: „Interrail-Ticket“. Erfolgreich abgelegte Interrail-Matura hatten diejenigen unter uns, die norwegische Mitternachtssonne gesehen, sich in Marokko gepresste Erde als Marihuana andrehen hatten lassen und auf Finnisch bis zehn zählen konnten. Von letzterem Zauberwissen profitiere ich noch heute. Internet hieß damals noch Interrail, und wir waren bitte die dazugehörigen Nomaden.

Der bekannteste Digitalnomade der heutigen Eisenbahn ist Lasse Stolley. Laut dem „Business Insider“ löste der Schleswig-Holsteiner als 16-Jähriger sein Kinderzimmer auf (2022), verschaffte sich eine Bahncard 100 und genießt seitdem das Leben in vollen Zügen, idealerweise aber in leeren. Als freier App-Entwickler kann er von überall her arbeiten. Im ersten Jahr absolvierte er 1792 Zugfahrten innerhalb Deutschlands, inzwischen war er 143 Mal in Frankfurt und knackte die halbe Million Kilometer.

In seinem Blog beschreibt Stolley die Existenz auf Gleisen. Einige Einträge wirken abgeklärt, fast überprofessionell, sie erwecken den Eindruck, den Jungen gäbe es gar nicht. Ist er ein Bot der Bahnwerbung, geschickt zusammengesetzt aus Erfahrungen moderner KI? Taucht man tiefer in seine Welt, erscheint ein Mensch aus Fleisch und Blut mit differenzierten Beobachtungen und Ansichten („Mal wieder das übliche Trauerspiel mit den BahnBonus- Plätzen.“). Nur, sein Ziel ist ja eh, Generation-Z-typisch, dass sich die DB bei ihm meldet und ihm die Rückmeldungen honoriert.

Der Mann mit dem Minirucksack (vier T-Shirts, zwei Hosen, ein Nackenpolster, eine Decke und sein Laptop) weiß, welcher ICE mit welcher Waggon-Baureihe bestückt ist. Notfalls schläft er im Gepäckfach. Seit er sein Leben auf erste Klasse upgegradet hat, kann er in den DB-Lounges essen. Zugbegleiter sagen ihm: „Ich weiß, du hast eine Bahncard 100, lass gut sein.“ Diesen Winter war Lasse Stolley sogar als Interrrailer unterwegs, in der neuen Variante (mit Internet). Doch was ist los? Hat er sich sesshaft verliebt? Keine Blogeinträge seit Dezember.

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