Politikwissenschaft

„Mehr“ zu begehren ist in die Gesellschaft eingeschrieben

Die Kämpfe der Klimabewegung gegen den Abriss des deutschen Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier sorgten Anfang 2023 für Aufsehen.
Die Kämpfe der Klimabewegung gegen den Abriss des deutschen Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier sorgten Anfang 2023 für Aufsehen.Getty Images / Andreas Rentz
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Ulrich Brand und Markus Wissen werfen in ihrem neuen Buch einen kritischen Blick auf den kapitalistischen Normalzustand und die krisenerzeugenden Mechanismen darin. Um sich davon abzuwenden, brauche es andere Werte und Formen des Wohlstandes.

Produzieren, konsumieren, wachsen – diese Normalität hat so manch monströse Kehrseite. Soziales Ungleichgewicht ist eine davon, die Klimakrise eine andere. Warum der Kapitalismus ihr Wegbereiter und unerschütterlicher Förderer ist, erläutern die Politikwissenschaftler Ulrich Brand (Universität Wien) und Markus Wissen (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) in dem Buch „Kapitalismus am Limit“, das dieser Tage im Oekom-Verlag erscheint. Schlüssig und auch für Laien gut nachvollziehbar analysieren die Autoren dazu Kapitel für Kapitel die großen Mechanismen unserer Gegenwart.

Die beiden Forscher haben 2017 den Begriff der „Imperialen Lebensweise“ geprägt. In einem gleichnamigen Buch kritisierten sie die Ausbeutung von Mensch und Natur und argumentierten für eine umfassende sozial-ökologische Transformation. Sieben Jahre später sind sechs der neun planetaren Grenzen überschritten und neue gesellschaftliche Krisen überschatten die Welt. In dem neuen Buch machen Brand und Wissen nun deutlich, warum eine solidarische Lebensweise mehr denn je notwendig ist und woran Klimaschutzmaßnahmen im Großen wie im Kleinen scheitern – obwohl die Destruktivität der „monströsen Normalität“ im Kapitalismus kaum mehr geleugnet werden kann.

„Realitätsfremde“ Lösungen

Das Kernproblem: Der Raum des politisch Möglichen ist systematisch begrenzt, u. a. durch tief verankerte Herrschaftsverhältnisse, die sich in die staatlichen Apparate eingeschrieben haben. Am Beispiel der Mobilität erläutern die Autoren die Konsequenzen: So knüpft der Kampf für den Übergang zur Elektro-Automobilität an die grundlegenden Logiken, die in Gesellschaft und Staatsapparaten vorherrschen, an: an die Logik der Innovation, der Stärkung einer Kernindustrie des Exportmodells, des Erhalts von Arbeitsplätzen und des Ausbaus mobiler Infrastrukturen. Sprich, ein schwieriger, aber denkbarer Ausweg aus der Krise. Im Unterschied dazu wird die Überwindung des autozentrierten Verkehrssystems als „realitätsfremd“ bewertet: „Solch ein Anliegen befindet sich jenseits des Horizonts dessen, was als sag- oder machbar gilt“, schreiben Brand und Wissen.

Auch wissenschaftliche Befunde kommen nicht gegen die vorherrschenden Logiken an. Doch diese seien weder selbstverständlich noch alternativlos, betonen die Autoren. Die Zeiten, in denen Krisen kaschiert werden konnten (sozial-ökologische Kosten verlagerte man in den Globalen Süden, auf unbezahlte Pflegearbeit oder auf künftige Generationen), seien jedenfalls vorbei. Bisher habe man stets einen Ausweg durch Verlagerung gefunden. Vorübergehend. Etwa bei der energetischen Nutzung von Kohle zu Beginn der Industrialisierung, die Lösung für die Holzkrise ebnete allerdings in Folge den Weg zur Klimakrise.

Aktuell gerät diese Tendenz zur Grenzverschiebung selbst an ihre Grenzen. Zumindest häufen sich die Indizien dahingehend. Längst ist die sozial-ökologische Misere zum globalen Phänomen geworden, das auch in den Alltag jener eindringt, die bisher von der Naturzerstörung profitiert haben. Trotzdem nimmt der Bedarf an Rohstoffen und Energie weiter zu, was zu geopolitischen und geoökonomischen Rivalitäten führt. Oder, wie es Brand und Wissen formulieren: „Öko-imperiale Spannungen werden zu einem Strukturmoment der internationalen Politik und manifestieren sich immer wieder in offenen politischen Konflikten bis hin zu Kriegen.“ Den Aufstieg rechter Kräfte in vielen Teilen der Welt verstehen sie als politischen Ausdruck der Polykrise.

Wissenschaft allein ist zu wenig

In der ökologischen Modernisierung des Kapitalismus sehen die Wissenschaftler zwar durchaus Potenziale für Wirtschaft und Umwelt. Doch weitere Katastrophen und Transformationskonflikte – bis hin zu einem Kollaps durch ein Wegbrechen von Infrastrukturen, die derzeit die Versorgung mit basalen Gütern und Dienstleistungen sichern – seien durch die Konkurrenz mit autoritär-fossilen Entwicklungsmodellen programmiert. Die offene Frage: Wohin kippt die Welt in dieser Phase des Übergangs?

Brand und Wissen stellen nicht allein ihre kritische Gegenwartsdiagnose ins Zentrum, sondern beleuchten ebenso den Möglichkeitsraum, der bleibt, indem sie Horizonte einer solidarischen Begrenzungspolitik skizzieren. Wissenschaftliche Einsichten reichen nicht aus, um Regierungen und Unternehmen zum Handeln zu bringen, es brauche, resümieren sie, emanzipatorische Kämpfe.

Ulrich Brand, Markus Wissen: <strong>Kapitalismus am Limit</strong>, Oekom-Verlag, 224 Seiten, 25,50 Euro
Ulrich Brand, Markus Wissen: Kapitalismus am Limit, Oekom-Verlag, 224 Seiten, 25,50 Euro

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