Leitartikel

Der Moskau-Terror ist vielleicht erst der Anfang

Imago / Russian Investigative Committee
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Im Schatten des Ukraine-Kriegs ist die Gefahr durch Jihadisten nicht verschwunden, sondern gewachsen, und zwar nicht nur in Russland, sondern auch in Europa und in Österreich.

Die sozialen Netzwerke sind ein seltsamer Ort. Das Blutbad in der Crocus City Hall in Moskau war noch nicht zu Ende, da hatten manche sonst seriöse Analysten auf X schon ihre Ermittlungen abgeschlossen. Die Welt, meinten sie, würde Zeuge eines Angriffs unter falscher Flagge, den Putin fingiert habe, um den Krieg in der Ukraine zu eskalieren. Für einen Halbsatz Empathie hatten sie keine Zeit. Die (meisten) westlichen Regierungen machten diesen Fehler nicht. Sie drückten rasch den Familien der Opfer ihr Mitgefühl aus. Denn nichts rechtfertigt den Terror gegen Zivilisten, darunter Kinder. Punkt.

Auch am Samstag fischten sich manche aus dem Strom an Nachrichten nur das, was ihre Thesen zu bestätigen schien. Das nennt sich Confirmation Bias. Alle anderen Hinweise wurden ignoriert, darunter, dass der Islamische Staat (IS) ein Bekennerschreiben verbreitet hat, das laut Experten echt ist, und dass es in Russland eine lange blutige Geschichte an Terrorangriffen gibt, von denen die Geiselnahme im Dubrowka-Theater 2002 nur die bekannteste ist.

Vorschnelle Urteile sind also Unsinn. Jegliches Misstrauen aber hat sich Putin verdient. Der Mann kennt keine Skrupel. Just in den Stunden des Angriffs in Moskau jagte er Kamikaze-Drohnen gen Ukraine, mit dem Kalkül, Angst und Schrecken zu verbreiten, also Zivilisten zu terrorisieren. Und vieles deutet darauf hin, dass Putin 1999 Sprengstoffanschläge fingieren ließ, um den Krieg gegen Tschetschenien zu rechtfertigen und seine Macht zu festigen.

In den nächsten Tagen kommt es mit Blick auf die Ukraine jedenfalls weniger darauf an, wer den Anschlag verübt hat, sondern mehr darauf, von wem der Kreml behauptet, ihn verübt zu haben. Putin muss den Angriff nämlich gar nicht fingiert haben, um ihn für sich zu instrumentalisieren. Auch dafür gibt es in seiner Ära Beispiele. Dass ­Putin eine ukrainische Spur andeutet, verheißt nichts Gutes. Ein gefährlicher Moment.

»Putin muss nicht hinter dem Anschlag stecken, um ihn für seine Zwecke zu instrumentalisieren.«

Der Moskau-Terror ist zugleich eine Erinnerung, dass andere Bedrohungen nicht verschwinden, nur weil Russland einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führt. Die Gefahr durch islamistischen Terror ist im Sog des Gaza-Kriegs sogar gewachsen, und zwar auch in Österreich, wo die zweithöchste Terrorwarnstufe gilt und zu Ostern die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt werden.

Ein gefährlicher Moment

Den Anschlag hat der Islamische Staat (Provinz) Khorasan für sich reklamiert, ein IS-Ableger, dem selbst die Taliban zu gemäßigt sind und der 2023 zu Weihnachten auch einen Anschlag in Wien geplant haben soll. Russland war stets im Visier der Gruppe, wegen des sowjetischen Feldzugs in Afghanistan, der Tschetschenien-Kriege und der Intervention in Syrien.

Im IS haben Russland und der Westen einen gemeinsamen Feind. Der Schutz von Zivilisten zwingt daher beinahe zur partiellen Kooperation. Trotz allem. Und die US-Geheimdienste haben Russland auch öffentlich vor einem Anschlag gewarnt. Putin aber tat das als Propaganda ab. Er ist jetzt bloßgestellt. Wie gesagt: ein gefährlicher Moment.

E-Mails an: juergen.streihammer@diepresse.com

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