Anton Bruckners Kindheit

Das Kind auf der Orgelbank

Anton Bruckners Geburtszimmer in der Lehrerwohnung der Schule von Ansfelden. 
Anton Bruckners Geburtszimmer in der Lehrerwohnung der Schule von Ansfelden. ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com 
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Armut, Schule, Kirche, Musik: Alles, was Anton Bruckner in seiner oberösterreichischen Heimat erlebte, klingt in seinem ganzen Leben nach. 

Es war immerhin ein habsburgisches Kernland, das „Land ob der Enns“, aber es dauerte bis 1861, bis es von Kaiser Franz Joseph einen würdigen offiziellen Namen erhielt: „Erzherzogtum Österreich ob der Enns“. Die Bezeichnung blieb dann bis 1918, da sprachen die meisten aber schon längst von Oberösterreich. Man blickte von Wien aus ein wenig verächtlich auf die übrigen Kronländer, die Provinz, lang hielt sich der alte mittelalterliche Sprachgebrauch und man sprach geringschätzig vom „Landl“ und von seinen Bewohnern als den „Landlern“. Einer Sammlung von Gedichten in oberösterreichischer Mundart wurde 1843 „getreuliches Wiedergeben der Gemütlichkeit und der unbefangenen, kindlichen Empfindungen jenes Gebirgsvölkleins“ attestiert, „das in seinen blauen Bergen ein frohes, sorgenfreies Leben führt“. Eduard von Bauernfeld dichtete reichlich holprig: „Mit Zyankali hat es keine Eile, man kann auch ruhig sterben aus Langeweile, wie in der Provinz – in Linz.“

Eine reizvolle, aber doch sehr rückständige Gegend, sagte man, mit wehrhaft wirkenden vierkantigen Bauernhöfen, schwerbeladenen Fuhrwerken, Wildschützen, Sennerinnen und Bauernbuben, die gewaltig große Hüte trugen. Ein kaisertreues, dem christlichen Glauben verbundenes Land, das die Habsburger nicht einmal in den offiziellen Kaisertitel aufnahmen. Sie kamen mit Ausnahme der Salzkammergutorte Bad Ischl oder Gmunden auch kaum jemals hierher. Man verwaltete von Wien aus das übrige Österreich, ohne es kennenzulernen. Ob der Enns hatten ja auch nur zwei Gemeinden mehr als 10.000 Einwohner, die Landeshauptstadt Linz und Steyr. Bauernland eben.

Wer von hier, etwa aus dem oberösterreichischen Traunviertel, in die urbane Welt kam und seine Wurzeln nicht ablegen konnte oder wollte wie der 1824 geborene Anton Bruckner, wer wie er den Landschaften seiner Jugend und Kindheit verhaftet blieb, seinen oberösterreichischen Dialekt beibehielt, die bodenständige Küche seiner Heimat weiter liebte, der konnte leicht in den Ruf der Provinzialität und Schrulligkeit geraten. Doch das ließ ihn unberührt, er verleugnete seine Herkunft aus der Provinz in keiner Sekunde seines Lebens und charakterisierte sich gern als „oberösterreichischer Mostschädel“. Umfassend und eng blieben die Beziehungen zu den vielen Verwandten in seiner Heimat und die Anteilnahme an ihrem Schicksal. Alles, was er in seiner Kindheit und Jugend hier erlebte, auch die Not und die Bedrückung, klingt in seinem ganzen Leben nach. Kein Biograf kommt um die Berücksichtigung von Bruckners Herkunft herum. Die sozialen Missstände der Zeit werden an seinem Lebenslauf exemplarisch deutlich.

„Ob der Enns“

Bruckners Geburtsort Ansfelden liegt in einem alten Kronland der Habsburgermonarchie. Im 13. Jahrhundert wurde das Fürstentum Austria superior, das heutige Oberösterreich, erstmals erwähnt. Es umfasste die Regionen Innviertel, Mühlviertel, Hausruckviertel und Traunviertel, hieß ab 1861 offiziell „Erzherzogtum Österreich ob der Enns“ und grenzte im Süden an die Steiermark und Salzburg, im Westen an Bayern, im Norden an Böhmen, im Osten an Österreich unter der Enns (Niederösterreich), von dem es durch den Fluss Enns geschieden war. 1861 hatte es rund 700.000 Einwohner. Die Hauptstadt war Linz. Der offizielle Name Oberösterreich wurde erst 1918 vergeben.

Von Bauern abstammend, hieß es meist. Da muss man aber schon sehr weit zurückgehen, in eine Zeit, in der mehr oder weniger jeder von leibeigenen Bauern abstammte. Es gab viele Irrtümer bei der Rekonstruktion von Bruckners Stammbaum, letztlich gelang sie aber mithilfe von Tauf- und Totenbüchern über neun Generationen hinweg, bis ins 17. Jahrhundert zurück. Der Name Bruckner („der an der Brücke wohnt“) ist in Oberösterreich weit verbreitet, er wurde auch Pruckhner, Prugkner, Bruggner geschrieben. Jeder der Bauernhöfe trug einen eigenen Namen, malerisch zerstreut lagen sie in der Hügellandschaft, man ging oft länger als eine Viertelstunde von einem Hof zum anderen. Noch heute kann man den „Bruckhof“ im westlichen Niederösterreich finden. Doch bei Anton Bruckners Vorfahren findet man bürgerlich-gewerbliche Berufe, sie waren Handwerker, Kaufleute, Gastwirte, Fassbinder. Alle lebten sie im weiteren Raum um Linz.

Als Anton geboren wurde, lebte sein Großvater noch. Er war der Erste in der Familie, der Lehrer wurde. Er zog von Niederösterreich in den 1000-Seelen-Ort Ansfelden im oberösterreichischen Traunkreis. Zu Fuß ging man von da fünf Stunden nach Steyr, zweieinhalb Stunden nach Linz oder St. Florian. 91 bäuerliche Familien lebten hier mit ihren Taglöhnern neben wenigen Gewerbetreibenden. Seit 1706 existierte in dem Ort ein Schulhaus, es war unmittelbar neben der Kirche, eine typische Nachbarschaft in Österreichs Dörfern: die Symbiose von Wissen und Glauben. Bruckner war beiden lebenslang verpflichtet.

Im Schulhaus neben der Kirche von Ansfelden lebte die Familie Bruckner.
Im Schulhaus neben der Kirche von Ansfelden lebte die Familie Bruckner. akg-images / picturedesk.com 

Lesen, Schreiben, Rechnen

Hier war der Lebensmittelpunkt der Familie, das Haus, in dem Anton Bruckner geboren wurde und wo sein Großvater, Vater und schließlich auch er selbst die Kinder des Ortes im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtete. Mehr war abgesehen vom Religionsunterricht nicht nötig, man nannte die Volksschulen auf dem Land daher Trivialschulen. Sie wurden von den meisten Kindern bis zu ihrem 12. Lebensjahr besucht. In Ansfelden gab es nur einen Schulraum für mehr als 200 Schüler. Doch das ging sich aus: Es wurden mehrere Gruppen nacheinander unterrichtet, und obwohl seit dem maria-theresianischen Volksschulgesetz eigentlich Schulpflicht herrschte, waren nie alle da. Mal waren die Kinder im Ernteeinsatz, bei Kälte fehlte es ihnen an Schuhwerk und Kleidung und sie blieben zu Hause. So hielt sich das Gedränge im Schulhaus in Grenzen.

Die Lehrerschaft in diesen Dorfschulen war unbeschwert von höherem Wissen, ihr Ziel sollte sein, „die arbeitenden Volksklassen zu recht herzlich guten, lenksamen und geschäftigen Menschen zu machen“. Darüber wachte der Pfarrer des Ortes. Einer, der die Unruhe im Staatswesen zutiefst verabscheute, der Dichter Adalbert Stifter, schrieb 1849 eine Hymne auf dieses Erziehungssystem: „Einer der wichtigsten Männer im Staate ist der Landschullehrer, und die höchste Schule des Staates ist die Landschule.“ Obwohl die Aufgabe, die jungen Menschen abzurichten, so hoch eingeschätzt wurde, bezahlte man die Schulmeister, Lehrer und Lehrgehilfen schlecht. Sie erhielten zusätzlich zum bescheidenen staatlichen Gehalt von den Eltern der Schüler Korn, Eier, einen Laib Brot oder Flachsbündel, das Eintreiben der Naturalien war oft nicht leicht.

Auch Anton Bruckners Großvater und Vater waren in dieser prekären sozialen Lage, trotz Dienstwohnung im Schulhaus galten sie als „arme Schlucker“. Anton Bruckners Vater musste sich um eine gute Partie umsehen, um eine Frau, die etwas Vermögen in die Ehe brachte. Er fand sie in Theresia Helm. Für ihre Familie, Großgrundbesitzer und Gastwirte, war diese Ehe keine gute Wahl, ein sozialer Abstieg, der mit Verachtung sanktioniert wurde. Die resolute, willensstarke Frau war entschlossen, den Kampf ums tägliche Brot aufzunehmen, sie hatte es aber nicht leicht: Von den zehn Geschwistern Antons starben die meisten in zarter Kindheit, drei gleich nach der Geburt, sie wird wohl viel um das Überleben Antons gebetet haben. Ständig wurden in den kleinen Ortschaften Kindersärge gezimmert. Finanzielle Sorgen können krank machen: Der Gesundheitszustand ihres Mannes wurde schlechter. Er begann mehr Alkohol zu trinken, als ihm guttat.

Durch die traditionelle Verbindung von Schule und Kirche ließ sich das Hungergehalt aufbessern. Gemäß der maria-theresianischen Schulordnung war nämlich der Schul- mit dem Kirchendienst gekoppelt. Alle Lehrer brauchten eine Grundausbildung in Musik, meist beherrschten sie mehrere Instrumente. Sie waren zugleich Dorf-, Stadt- und Kirchenmusiker, es wurde nicht nur im Schulhaus musiziert und gesungen. Auch Franz Schubert war aus einem solchen Lehrerhaus hervorgegangen. Die Lehrer waren auch Mesner, sie halfen dem Pfarrer in der Sakristei beim Ankleiden, sie ministrierten, sie spielten am Sonntag in der Kirche die Orgel und dirigierten den Kirchenchor.

Musikerlebnis auf der Orgelempore. Ein Kirchenchor auf dem Land. 
Musikerlebnis auf der Orgelempore. Ein Kirchenchor auf dem Land. Alamy

Anton, der „Tonerl“ gerufen wurde, konnte, auf der Orgelbank neben dem Vater sitzend, dessen Spiel bewundern. Er sagte später: „In die Schul’ bin i nie gern’ gangen, desto lieber auf den Kirchenchor zum Singen. Das war mir alleweil das Höchste!“ Ohr und Herz öffneten sich den Klängen der Musik. An den hohen Feiertagen wie Fronleichnam kamen auch zwei Trompeter aus Linz. Unvergleichlich stärker waren die musikalischen Eindrücke, wenn das Kind mit den Eltern zum nahegelegenen Stift St. Florian mitgenommen wurde, wo es den Klang einer mächtigen Orgel hören konnte.

Anton, der Erstgeborene, wurde immer brauchbarer, in Schule und Kirche vertrat er manchmal den Vater. Um das Einkommen aufzubessern, hatte der auch oft bis in die Nacht hinein in den Wirtshäusern auf Hochzeiten und Faschingsbällen die Tanzgeige gespielt. Fiel er wegen Krankheit aus, übernahm der Sohn das „Tanzel-Geigen“. So kam er mit der damals praktizierten Volksmusik in Kontakt, dem in Oberösterreich überaus populären Landlergeigen. Zudem gab es auf jedem größeren Bauernhof einen, der ein Blasinstrument spielte, Hörner, Posaunen, Trompeten. Kein Dorf ohne eine Blaskapelle! Der Einfluss auf Bruckners Schaffen wurde oft betont.

Es war unübersehbar, dass er großes musikalisches Talent besaß, auf seiner Kindergeige spielte er die Melodien, die er in der Früh in der Kirche gehört hatte, nach, aufmerksam hörte er dem Klang des Spinetts zu, man ließ ihn auf der Orgel spielen. Mehr hatte das Elternhaus nicht zu bieten. Dem Vater wurde klar: Es war unzureichend. So brachte er den elfjährigen Sohn manchmal zum „Vetter Weiß“ ins nahe Bauerndorf Hörsching. Johann Baptist Weiß, ebenfalls Schulmeister und Organist sowie Antons Firmpate, besaß überdurchschnittliche musikalische Fähigkeiten. Kaum einer übertraf ihn im damaligen Oberösterreich.

Abschied vom Schulhaus

So wurde dem Kind die Welt der Musik auf eine ganz neue Weise erschlossen, der „Herr Göd“ spielte ihm auf dem Klavier Joseph Haydns „Schöpfung“ und „Jahreszeiten“ vor und sang die Vokalstimmen dazu, am Sonntag führte er Messen von Mozart auf, er lehrte ihn, was ein Generalbass ist, und ließ ihn auf der Orgel präludieren. Möglicherweise entstanden hier einige der ersten von Antons Kompositionen. Ab und zu durfte er seinen Cousin in der Kirche vertreten. Das war sicherlich eine glückliche Zeit für ihn.

Inzwischen erkrankte der Vater schwer an der Lunge und starb binnen weniger Wochen im 46. Lebensjahr. Damit war die Lehrzeit in Hörsching, die so viel zur Entwicklung von Antons musikalischem Talent, in Theorie und Praxis, beigetragen hatte, nach zwei Jahren abrupt zu Ende. Zu Ende war auch das Leben im Ansfelder Schulhaus. Die Mutter musste es mit ihren fünf Kindern verlassen, um für den Nachfolger Platz zu machen. Ihre Eltern scheinen ihr die so bitter nötige Unterstützung versagt zu haben. Auch für eine blinde Schwägerin hatte sie zu sorgen. So zog sie mit einem Handwagen voll Hausrat in die Ortschaft Ebelsberg, wo sie als „Helferin“ für fremde Leute die Wäsche wusch und aushilfsweise als Dienstmagd arbeitete. Geringe finanzielle Leistungen erhielt sie vom Pensionsinstitut für Schullehrers-Witwen und –Waisen. Hier, in Ebelsberg, wird sie nach unzähligen Entbehrungen auch ihr Leben beenden, hier liegt sie auf dem Friedhof, während ihr Mann in Ansfelden bestattet wurde.

»Bruckners geistiges Umfeld in St. Florian war reichhaltig und weltoffen, auch in musikalischer Hinsicht.«

Felix Diergarten

Bruckner-Forscher 

Legendär wurde noch am Todestag ihres Ehemannes der „Bittgang“ der verwitweten Frau. Man erzählte sich, dass sie damit den entscheidenden Schritt für Antons Zukunft setzte: Sie nahm ihn am Arm, ging zwei Stunden lang bis nach St. Florian, klopfte dort an das Augustiner Chorherrenstift (es ist der Pfarrherr von Ansfelden) und trug einem Stiftsangehörigen die Bitte vor, Anton als Sängerknaben aufzunehmen. Heute wird angezweifelt, ob sie bei all ihren Sorgen damals Zeit hatte dafür. Vorangegangen war jedenfalls ein Schreiben des Vikars ihrer Pfarre an den Probst von St. Florian: „Ich empfehle die Witwe mit ihren fünf unversorgten Kindern der hohen Gnade.“ Eine Ablehnung lag in der Luft, der Knabe stand mit 13 Jahren unmittelbar vor dem Stimmbruch. Doch er wurde aufgenommen. Damit war im Herbst 1837 die wichtigste Entscheidung in Anton Bruckners ersten Lebensjahrzehnten gefallen.

Das Magazin

Ein Auszug aus dem gemeinsamen Magazin für zwei Jubiläen: 50 Jahre Brucknerhaus, 200 Jahre Anton Bruckner.

Das Magazin ist im Brucknerhaus Linz, im Handel oder unter diepresse.com/geschichte zum Preis von 14 Euro erhältlich.

Dieses Magazin wurde von der „Presse“ in Unabhängigkeit gestaltet. Es ist mit finanzieller Unterstützung der LIVA - Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH möglich geworden.

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