Eingang zum Riesenrad mit Publikum, 1930.
Geschichte

Sehnsuchtsort Wiener Prater: „Des Paradies is a Schmarrn dageg’n“

Im Rausch der Glückseligkeit werden soziale Hierarchien gern vergessen, vor allem im Prater, dem alten Sehnsuchtsort der Wiener, dem exterritorialen Zufluchtsort jenseits des grauen Alltags. Ein Buch mit mehr als hundert Praterliedern entführt in eine Welt von Träumereien und Illusionen. 

Eine ganze Chronologie der Wiener Alltagsgeschichte lässt sich anhand dieses Geländes schreiben. Rasend schnell war es zum populären Refugium für das kleine anarchische Sonntagsvergnügen geworden. Am 7. April 1766 hatte Kaiser Joseph II. das kaiserliche Jagdrevier, wo die gemeinen Leute nur als Treiber bei den Hofjagden zugelassen waren, dem Volk „geschenkt“. Und über Nacht wurde aus dem „pratum“, der „Wiese“, das Spaßgebiet Prater, mit bescheidenen Holzhütten, die von findigen Vorstadtwirten aufgebaut wurden und sich als Gasthäuser gebärdeten, und mit Schießbuden und Ringelspielen, Schaukeln und Puppentheatern zur Unterhaltung der Kinder.

Weg war der aristokratische Anstrich, Lustigmacher, Gaukler, Taschenspieler und Bauchredner eroberten das Terrain. Soll aber keiner glauben, dass dies nur das Revier der kleinen Leute war. Es gab auch die kilometerlange Hauptallee mit ihren alten Kastanienbäumen, und da war die Grenze zwischen Volk und feiner Gesellschaft. Da begann der noblere Teil, wo in den Kaffeehäusern Militärkapellen aufspielten und Restaurants für die Bürgerschicht aufmachten. Hier waren auch Aristokraten und Mitglieder der gehobenen Bürgerschicht, man sah sie mit der Familie flanieren oder unterwegs zu Ross.

Subkultur

„Nobel-Prater is schon fader, Da is alles g’spreizt“, sang man um 1900. Doch fein säuberlich getrennt waren die gesellschaftlichen Schichten, die in den Prater kamen, nie. Der Teil Wiens, in dem er sich befindet, die Leopoldstadt, gehörte zu den Vorstädten, und die unterschieden sich deutlich von der von der Hochkultur geprägten Inneren Stadt. Deren Bürger hatten am Wochenende eine Affinität zur Subkultur draußen, zu den wilden Tänzen, gefügigen jungen Damen und Alkoholexzessen.

Kaum irgendwo in der Stadt war die Verschränkung sozialer Differenzen, die Vermischung von bürgerlicher und proletarischer Kultur so stark wie hier, von der „Anarchie der Vorstadt“ sprachen die Historiker Wolfgang Mader­thaner und Lutz Musner. Im Rausch der Glückseligkeit wurden soziale Hierarchien gern vergessen. Wenn man von der Stadt kommend das Areal hinter dem Tegetthoff-Denkmal am Prater­stern betrat, öffnete sich eben mehr als ein Belustigungsareal. Man hatte vor sich einen demokratischen Ort der Gleichstellung von Hoch und Niedrig, „ein Völkerg’misch, alle Sprachen (…) von Dragoner bis Ulaner“, hieß es damals. Oder: „Hereinspaziert zum Fröhlichsein, ob alt, ob jung, ob groß, ob klein, der Wiener Prater ladet alle ein.“

Zaungäste im Wiener Prater, fotografiert von Emil Mayer um 1905. 
Zaungäste im Wiener Prater, fotografiert von Emil Mayer um 1905. Wien Museum, Peter Kainz

Ein Paradies der Diversität. Von weit mehr als einem Freizeitpark kann man hier sprechen, schreiben Susana Zapke und Wolfgang Fichna, eher von einem „transitorischen Schwellenraum der Innenstadt“, von „ge- und erkaufter Illusion“, von einem „exterritorialen Versprechungsraum jenseits des grauen urbanen Alltags“, einem Ort des „erlebten Ausnahmezustandes“ und einer „Täuschungswelt“.

Nun, an einigen Stellen geht mit der Musikhistorikerin Zapke und dem ausgewiesenen Wien-Experten Fichna die Sprache der wissenschaftlichen Seminare durch. Das ändert gar nichts an dem Vergnügen, das das wunderbare Buch über die Populärkultur der Vorstadt und speziell den Pratermythos in all seinen Spielarten bietet. Die Verfasser bringen ihn uns nahe anhand eines wenig bzw. gar nicht bekannten Liedrepertoires, das in dieser Form nicht nur im Prater selbst, in seinen Kaffee- oder Wirtshäusern, gesungen wurde, sondern auch im privaten Familien- und Freundeskreis. Die Praterlieder (nachgewiesen sind mehr als 300) stammen von bürgerlichen Komponisten und Textautoren und waren zur Unterhaltung eines breiten Publikums gedacht: „Das, was im Prater erlebt wird, perpetuiert sich in der Gestalt des Liedes.“

Damenkapelle

Der Ort selbst war ja rund um die Gastronomiebetriebe immer schon ein Ort der Musik, und zwar aller Stilrichtungen. Wo alle zusammenkamen, drückte sich das auch in der Musik aus. Auf dem Cover des Buchs sieht man Damen in den weißen, langen Kleidern der Jahrhundertwende auf einem Podest am Eingang des Pratergasthauses Zum Eisvogel. Es ist eine Damenkapelle, die im Winter auch international auf Tournee ging. Die „Weißen Maderln“ waren eine besondere Attraktion des Praters um 1900.

Was machte den Reiz des Praters aus? „Als ob alles für eine Fröhlichkeit hergerichtet worden wäre“, schrieb Felix Salten in „Wurstelprater“, der Text gilt als Schlüsseltext zur Wiener Moderne. Es sind „zeitlose Träumereien eines glücklichen Daseins“, jenseits des bürgerlichen Alltags, so Zapke und Fichna. „Das ist die Praterluft, die macht den Menschen jung“, sang man, und sie rief nostalgische Gefühle hervor, nach der „alten Zeit“, die im Wienerlied immer besser war als die Gegenwart. Auch die Praterlieder sind Teil des Wienerlied-Genres. Wenn die Tochter reichlich spät nach Hause kommt, erinnern sich die Eltern im Lied an frühere Zeiten: „Es schmunzelt wieder der Herr Papa und die Mutter hat eine Freud, und lächelnd denkt die Großmama an die gute alte Zeit.“

Liebe und Sexualität, die körperliche Anziehungskraft und Annäherung der Geschlechter ist ein häufiges Thema, die verbotene Berührung der Körper auf dem „Liebesbankerl“, die freiere Begegnung, der voyeuristische Blick. „Wenn ein Pupperl sich dort hutscht und das Rockerl aufirutscht, sieht man bis in den Himmel hinein.“ „S’Paradies is a Schmarrn dageg’n.“

Es zog die Paare nach Einbruch der Dunkelheit in die Aulandschaft, wo nicht nur die Prostituierten, auch die Falotten, Strizzis und andere kleinkriminelle Elemente ihr Unwesen trieben, nachdem sie die Dienstmädchen zuvor beim Tanz betört hatten. „Wenn die Musik spielt leise, dreht er sich dann um im Kreise, schleicht zum Madel sich in die Näh’, stiehlt ihr’s Herz und s’Portemonnaie“, heißt es über die Schufte und Schlankerln. Der Euphorie konnte dann die Depression folgen: „Der Eingang in den Prater bedeutet den Zutritt in eine Täuschungswelt, der Ausgang deren Ent-Täuschung“, heißt es im Vorwort des Buchs, Desillusionierung sei die Kehrseite des ephemeren Glücks. Steht nicht das (Riesen-)Rad für die Göttin Fortuna, die Glück spendet und wieder entzieht?

Dialekt

Heute sind die 116 vollständig abgedruckten Liedtexte (sie stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart) bereits vergessen, einst waren sie richtige Gassenhauer und zur Unterhaltung eines breiten Publikums gedacht. Dem Rezensenten waren nur wenige davon bekannt, etwa „Im Prater blüh’n wieder die Bäum“. Sie ermöglichen auch eine amüsante Erkundungsreise in die Vielfalt des Wiener Dialekts. Für den Fall, dass der Leser doch nicht weiß, was „Gschloder“, „Duridari“ oder „betroppetzt“ bedeutet: Das Buch enthält auch ein Glossar der in den Liedern verwendeten Wiener Dialektausdrücke.

Auf einzigartige Weise stellen sie eine Beziehung mit der Stadt und ihrer Geschichte her, auch mit ihren unschönen Seiten, wie etwa Spuren des latent vorhandenen Antisemitismus in den Liedstrophen zeigen. Im Lauf seiner Geschichte war der Prater ja nicht nur Zeuge flüchtigen Genusses und beginnender Massenunterhaltungskultur, sondern auch bemerkenswerter Ereignisse: Er war Schauplatz der Weltausstellung 1873 mit der Rotunde als Zentrum, die Trabrennbahn wurde damals gegründet, danach der Themenpark „Venedig in Wien“.

Zum 50. Thronjubiläum Kaiser Franz Josephs wurde 1897 das Riesenrad errichtet, es verschaffte der Stadt eine unverkennbare Silhouette und wurde neben dem „Steffl“ zum markanten Wiedererkennungszeichen Wiens. Der Prater war aber auch Ort politischer Inszenierungen, Demonstrationen zogen von hier in die Innenstadt. Auf der Jesuitenwiese fanden schon um 1900 Volksfeste statt, das Rote Wien nützte den Prater, Kriegsausstellungen wurden gezeigt, und er fand Eingang in Film und Literatur. Wolfgang Fichna schrieb für das Buch eine feine Studie über Heimito von Doderer und den Prater.

Mit dem „Anschluss“ 1938 fand diese kreative Szene der Wiener Unterhaltungskultur, die von zahlreichen jüdischen Kleinkünstlern dominiert wurde, ihr Ende. In dieser Form war sie auf irreversible Weise verloren.

Erschienen

Susana Zapke,
Wolfgang Fichna:

Die Musik des Wiener Praters.
Eine liederliche Träumerei. Unbekannte Lieder aus zwei Jahrhunderten.

Hollitzer Verlag, 280 Seiten, 40 Euro

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