Buch der Woche

Thomas Kunst erzählt der Katze, was er denkt

Erhielt 2023 den Erich-Fried-Preis: Thomas Kunst, geboren 1965 in Stralsund.
Erhielt 2023 den Erich-Fried-Preis: Thomas Kunst, geboren 1965 in Stralsund.Thomas Lohnes/Getty
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Gedichte, die komponiert sind wie klassische Musik, Bilderfluten und Kritik an der Öffentlichkeit. Thomas Kunsts Lyrikband „WÜ“ ist ein Buch zum Nachdenken.

Lyrikbände sind gute Begleiter. Anders als Romane, die man in der Regel von vorne bis hinten durchliest. Man kann einen Gedichtband mit sich herumtragen, sich ein bisschen daran anhalten, einzelne Texte immer und immer wieder lesen – wie einen Song, den man eine ganze Zugfahrt lang ununterbrochen hört. Thomas Kunsts „WÜ“ ist so ein Buch, das sich ganz gut als Begleiter eignet. Weil es auch ein bisschen wie Musik funktioniert, wie ein klug durchdachtes Konzeptalbum mit Anklängen an die klassische Musik, enigmatischen Passagen und ein paar Soli.

Hüttenkäse ohne Schnittlauch

Da ist zunächst der Titel, „WÜ“. Schade nur, dass einen der Verlag schon auf der Umschlagklappe des Buches aufklärt, was es damit auf sich hat. WÜ ist nämlich die Katze des lyrischen Ichs, und an die richten sich recht viele Texte ganz direkt. Oft versieht Kunst sie mit einer Datumsangabe, woran letztlich zu erkennen ist, dass hier ein ganzes Jahr durchlaufen wird. „MEINE LIEBE WÜ, FÜNFZEHNTER JANUAR“ schreibt er da etwa, und wenig später: „Hartschaumreste, die am Pullover / Mit Schnee in Berührung kommen, sehen aus wie Cottage / Cheese, Hüttenkäse ohne Schnittlauch, hast du nach / Reihern und Fischen über dem Teich gesehen.“ So geht es dahin in diesen Gedichten, eine wahre Bilderflut, gespeist aus dem Alltag und der Landschaft, von Mexiko bis Mecklenburg-Vorpommern – wo Kunst aufgewachsen ist, eine Gegend, die zuletzt in seinem Roman „Zandschower Kliniken“, mit dem er 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert war, thematisiert wurde.

Kompositionstechniken verinnerlicht

Angesichts der Sprachkaskaden kann man sich in diesem Lyrikband auch leicht (und gern) verirren. Wie in einem Labyrinth taucht immer wieder einmal ein Satz auf, den man schon zu kennen glaubt, den man in irgendeiner Form schon einmal gelesen hat. Ein Satz wie „Mein Tod ist um, wir treffen uns bei Inge“. Variationen und Wiederholungen oder sprachliche Verknüpfungen – Kunst verwendet gern einen bereits vorhandenen Satz, manchmal den letzten aus dem vorigen Gedicht, um das nächste damit zu beginnen – lassen die Verwandtschaft zur Musik spüren. Konkret zu einem Komponisten, der wie der Autor in Leipzig wirkte: Johann Sebastian Bach. Davon abgesehen, dass Kunst bereits einige von dessen Werken vertextete, scheint er auch Bachs Kompositionstechniken verinnerlicht zu haben. Die sprachliche Dichte suggeriert zudem eine Vielstimmigkeit, wozu auch die Aufzählungen beitragen: „die Wäscheplätze / Hinter den Häusern kommen an Sonntagen / Ohne ihre Greifvögel oft nicht aus dem / Knick, die Bäume von Cinderella City, Cocktails und / Lösliche Industrien, Zucker und Nässe, Tellereisen und Deutscher / Schwanenhals“.

Rehgips statt Rigips

An manchen Stellen kann es ganz schön lustig werden, wenn es etwa heißt: „Es könnten Schweine sein: es sind Delphine“, später ist das lyrische Ich in Mexiko, einem der Lebensorte des Dichters, und es geht weiter: „die Elstern könnten Pinguine / Sein, es sind Delphine, die nicht mal springen auf der Straße“, und ein paar Gedichte später: „Und sieze keinen Pinguin im Nebel.“ Das Spiel mit Sprache und Form dreht sich oft ins Absurde. Da treibt sich ein Floh namens Gurkenhals herum, der Schlangenmessen feiert, und ein Elefant ist Gynäkologin und arbeitet bei Ärzte ohne Grenzen. Verspielt ist diese Dichtung, und das hat etwas angenehm Kindliches, wenn Kunst etwa schreibt, er habe statt des Worts Rigips immer Rehgips verstanden.

Die vielen sprachlichen Bilder können aber auch zur Reflektion der uns dominierenden Bilderflut dienen, die wir in der virtuellen Welt auch zusätzlich und verstärkt erleben. Ist nicht das ganze Leben ein einziger Stream von Bildern? Durch Kunsts Brille jedenfalls wird die Wahrnehmung dafür geschärft. Man muss sich hineinlesen in diesen lyrischen Sound, dann kann man auch das Erzählerische heraushören, das hier in optisch ansprechenden kurzen und langen Gedichten ebenso wie in Sonetten und Tankas dargeboten wird.

Dem Tod ein Schnippchen schlagen

Das Rückgrat dieser Texte ist eine Art Stammbaum oder Familienalbum. Es beginnt mit dem Vater, geht weiter mit der Mutter, Geschwistern, dann kommen Partnerschaften und Kinder dazu – und klarerweise verläuft das alles nicht ohne Probleme. Katze WÜ ist eine gute Zuhörerin, auch wenn der Dichter ständig von Hunden aus seiner Vergangenheit erzählt, etwa von Asta und Moppi, mit denen er und seine Schwester Gassi gingen. Dem Tod wird ein Schnippchen geschlagen. Eine Zeit lang wird er erwartet, dann ist er da, und danach geht es für den Erzähler trotzdem weiter, ohne dass der Tod groß gewaltet hätte, wie schön. Elternschaft ist ein Thema, Versagen, Verzeihen und auch der Krieg. ­Gelegentlich kurvt ein alter Wartburg, ein DDR-Relikt, durch diese Texte. Oft fragt man sich: Ist das jetzt eine Metapher oder ein ­direkter Bezug?

Gegen Political-Correctness-Posen

Eines der an „WÜ“ gerichteten Gedichte, in der Kunst einige befreundete Kolleginnen und Kollegen wie Monika Helfer und Norbert Gstrein aufzählt, liest sich dann wie eine poetologische Streitschrift: „ich / Vermisse den Zorn auf die Zufriedenheit über alle schon mal / Da gewesenen Gedichte, mir fehlen die Schmutzränder / Der Intellektualität“, und im Folgenden moniert er eine zu „anekdotischem Pendelverkehr zwischen Autor und Publikum aufbereitete Erzählweise“, aber auch die „abgesicherten Political- / Correctness-Posen“ und gibt gleichzeitig ein Bekenntnis für die Form ab. Ein bisschen schade ist dieses brachiale Poltern, in dem selbst keine besondere Poesie liegt. Ist es nicht vielleicht doch polemisch gemeint? Nein, eher nicht. Die Hinwendung zu klassischen Formen in der Lyrik gilt gemeinhin als etwas Edles. Doch warum eigentlich? Kunsts famose Lyrik bräuchte diese seltsame Abgrenzung nicht. So lässig wirken seine Texte, so perfekt sind sie komponiert. Aber gut, es scheint ihn zu bewegen, und der Katze kann man natürlich alles erzählen. Hoffentlich wurde sie danach mit einem Leckerli belohnt. Sei’s drum.

Wie auf jedem kultigen Album gibt es auch hier (hinter Dank und Glossar) noch „Hidden Tracks“, in denen eine differenziertere Kritik an Literaturbetrieb, Mainstream und Öffentlichkeit steckt. Das klingt dann nach Protestsong oder -sonett: „Wir könnten ohne likes in dieser Zeit // uns viel genauer auf uns selbst besinnen. … Wir sollten mit dem Aufhören beginnen, / Gedanken sind schon Lieder, auch zur Not. Das Weltgefühl hat Follower gefunden.“ Wie soll man diese Gedichte also lesen? Am besten laut, mit der Katze auf dem Schoß.

Buch

  • Thomas Kunst

    Gedichte. 174 S., geb.,
    € 25,50 (Suhrkamp)

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