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„Anora“ gewinnt in Cannes: Eine Goldene Palme für Sexarbeiterinnen

Strahlemann: Der US-Regisseur Sean Baker posiert mit seiner Goldenen Palme, sein Film „Anora“ hat beim Filmfest von Cannes triumphiert.
Strahlemann: Der US-Regisseur Sean Baker posiert mit seiner Goldenen Palme, sein Film „Anora“ hat beim Filmfest von Cannes triumphiert.APA / AFP / Sameer Al-doumy
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„Anora“, Sean Bakers komödiantisches US-Drama über eine Sexarbeiterin, reüssierte am Samstagabend beim Cannes-Filmfestival. Der flüchtige iranische Regisseur Mohammad Rasoulof erhielt einen Spezialpreis.

Er weiß nicht, was er jetzt noch machen soll, meinte der sichtlich überwältigte US-Regisseur Sean Baker am Samstagabend auf der Bühne des Palais des Festivals. Seit 30 Jahren sei es sein erklärtes Ziel, in Cannes die Goldene Palme zu gewinnen, und nun sei dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Die Trophäe wurde ihm vom „Star Wars“-Schöpfer George Lucas überreicht, der dieses Jahr mit einem Cannes-Ehrenpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Der 53-jährige Autorenfilmer Baker ist bekannt für sozialrealistische Filme voller lebhafter Charakterköpfe, etwa „The Florida Project“ (2017). Den Hauptpreis der prominenten Filmfestspiele an der Côte d’Azur errang er nun mit dem komödiantischen Drama „Anora“, das die heurige Jury unter der Leitung der „Barbie“-Regisseurin Greta Gerwig für sich einnehmen konnte. Titelheldin ist eine schlagfertige Sexarbeiterin aus Brooklyn (famos: Mikey Madison), die von Ivan, dem leichtlebigen Sohn eines russischen Oligarchen (Mark Eydelshteyn) als Privat-Escort angeheuert wird. Als Ivan ihr im Überschwang einen Heiratsantrag macht, sagt sie zu – was der Familie des verwöhnten Sprösslings gar nicht gefällt. Was folgt, ist jedoch kein Thriller, sondern eine herrlich wilde Komödie voller Knall und Fall, die nebenher einiges über die verhängnisvolle Abhängigkeit von (russischem) Geld erzählt.

Großes Cannes-Kino: „Anora“ von Sean Baker.
Großes Cannes-Kino: „Anora“ von Sean Baker.Festival De Cannes

Baker widmete seinen Preis allen SexarbeiterInnen. Und der Filmkunst, die auf die große Leinwand gehöre, wie er in seiner Dankesrede betonte. Ein klarer Seitenhieb gegen die Streaming-Branche: „Die Zukunft des Kinos liegt dort, wo es angefangen hat – im Kino.“

Bester Schauspieler wurde der US-Amerikaner Jesse Plemons, für seine Rolle in „Kinds of Kindness“, dem neuen Ensemblefilm des griechischen „Poor Things“-Regisseurs Yorgos Lanthimos. Der Darstellerinnenpreis des Festivals ging indes gebündelt an gleich vier Schauspielerinnen aus „Emilia Pérez“, einem Musical-Melodram des Franzosen Jacques Audiard. Es handelt vom Chef eines mexikanischen Drogenkartells, der eine geschlechtsangleichende Operation durchführen lässt. Zu den Preisträgerinnen zählen auch Popstar Selena Gomez und die Spanierin Karla Sofía Gascón, die erste Transfrau, die mit diesem Preis geehrt wurde.

Der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof, der in seiner Heimat vor Beginn des Festivals zu Gefängnis und Auspeitschung verurteilt worden war und daraufhin ins Ausland floh, wurde für sein politisiertes Familiendrama „The Seed of the Sacred Fig“ mit dem Spezialpreis der Jury prämiert. Er appellierte auf der Bühne an die Regierung Irans, sie solle die Bevölkerung seines Landes aus der „Geiselhaft“ entlassen. „The Village Next to Paradise“ – eine internationale Co-Produktion des in Wien lebenden Regisseurs Mo Harawe, die im Wettbewerb der wichtigsten Cannes-Nebensektion Un Certain Regard lief – ging leer aus.

Großes Kino, große Gefühle

Kann das Kino die Welt retten? In Cannes ist man geneigt, daran zu glauben. Kaum irgendwo sonst wird die mysteriöse Wirkmacht des bewegten Bildes auf der riesengroßen Leinwand so hemmungslos hochgejubelt wie bei den glamourösen Filmfestspielen an der Côte d’Azur, die heuer ihre 77. Ausgabe bestritten. Doch wie genau soll die ersehnte Weltrettung vollzogen werden? Während die Wiener Festwochen derzeit mit halb ernsten Räterepubliken und Schauprozessen zu Werke gehen, um ihrem Publikum politische Missstände sowie mögliche Lösungsansätze dafür greif- bzw. begreifbar zu machen, vertraute man in Cannes dieses Jahr ganz auf große Gesten, große Geschichten, große Gefühle. Und große Begriffe: Freiheit. Liebe. Hoffnung.

„Size matters“ (sprich: Größe zählt), so könnte auch der inoffizielle Slogan des legendären Kinoevents in Südfrankreich lauten. Denn groß müssen hier stets auch die Filme sein. Wer ästhetisch nicht in die Vollen geht, hat an der Croisette keine Chance auf Wettbewerbs-Slots. Leisetreter werden (mit raren Ausnahmen) in Nebenschienen relegiert.

Groß kann aber auch ein Sujet sein, besonders, wenn es schon vorab für Schlagzeilen sorgt. So der Fall bei Ali Abbasis „The Apprentice“, einem Biopic über Donald Trump. Nach der Cannes-Premiere klang die erwartbare Aufregung jedoch schnell ab. Der Film war gelungen, bot aber kaum Überraschendes.

Apropos Welt: Das Problem mit ihr sei, dass „die guten Menschen zu lang geschwiegen haben“, so Abbasi bei der Pressekonferenz seines jüngsten Werks. Es sei daher Zeit, Filme wieder „politisch“ und „relevant“ zu machen. Ein edles Diktum. Das allerdings im Widerspruch zur Devise steht, die der Cannes-Chef, Thierry Frémaux, zu Beginn des Festivals ausgegeben hatte. Er wolle sich auf die Filme konzentrieren, die Politik aus dem Diskurs des Festivals heraushalten. Es scheint ihm gelungen zu sein: Gerüchte im Vorfeld der Veranstaltung, es könne heuer zu Streiks und Kontroversen rund um #MeToo-Enthüllungen kommen, bewahrheiteten sich nicht.

„Finden Sie nicht auch, dass etwas mit der Welt nicht stimmt?“, fragte Yorgos ­­Lan­thimos Journalisten in Cannes. Diese Ansicht teilten bei ihren Gesprächen mit Medien auch die ältesten Semester im Wettbewerb, Francis Ford Coppola und Paul Schrader. Ihre Lamentos – früher war es noch leichter, Filme zu finanzieren, damals legten Studios noch größeren Wert auf Qualität – waren aber gar nicht so weit entfernt von trumpistischer Nostalgie: Make le cinéma great again!

Gottvertrauen in wohlwollende Genies

Fraglich ist freilich, wie fantasievoll die utopistische Vision einer aberwitzigen Science-Fiction-Parabel wie Coppolas „Megalopolis“ wirklich ist. Filmische Spielfreude kann man dem 85-jährigen Freigeist nicht absprechen, aber sein Gottvertrauen in wohlwollende Genies, deren wissenschaftliche Wunderkraft unsere Zukunft vergolden soll, wirkt wenig überzeugend.

Melancholisch: „Caught by the Tides“ von Jia Zhangke.
Melancholisch: „Caught by the Tides“ von Jia Zhangke.Festival De Cannes

Der renommierte chinesische Regieveteran Jia Zhangke – bekannt für seinen soziologischen Blick, der stets das große Ganze im Kamerafokus behält – verfiel in seinem poetisch sanft mäandernden Cannes-Beitrag „Caught by the Tides“ angesichts der Entwicklungen in seinem Heimatland indes in tiefe Melancholie.

Vielleicht liegt es ja an den Regisseurinnen, von denen heuer nur vier im Cannes-Wettbewerb vertreten waren, die Dinge zum Guten zu wenden? Die Französin Agathe Riedinger rang in ihrem soliden Langfilmdebüt „Wild Diamond“ eher die Hände – angesichts einer außer Kontrolle geratenen Social-Media-Unkultur, die junge Frauen dazu verleitet, ihre Körper und Persönlichkeiten dubiosen Idealbildern anzugleichen. Ihr Erstling erinnerte ein wenig an das Schaffen der Britin Andrea Arnold, die heuer gleichfalls im Palmenrennen vertreten war. Im Drama „Bird“ setzt Arnold auf magischen Realismus, um der Tristesse einer verwahrlosten Gegend in Kent belebenden Glanz einzuflößen.

Die herzensgute Protagonistin der Coming-of-Age-Story bekommt unverhofft Schützenhilfe in ihrem Alltag, in Form eines feenhaften Fremden, der aus heiterem Himmel in ihr Leben tänzelt – und vom deutschen Arthaus-Star Franz Rogowski verkörpert wird.

Subtilität und Sensibilität

Den ersten indischen Film im Cannes-Wettbewerb seit 30 Jahren lieferte indessen Payal Kapadia. Ihr leiser und verträumter Stadtfilm „All We Imagine as Light“ zählte zu den Highlights des heurigen Festivals, mit sensibler Subtilität skizzierte sie das Leben zweier unterschiedlicher Frauen in Mumbai, ohne das große Getöse, das man bei diesem Sujet erwarten könnte.

Endlich wieder ein Cannes-Beitrag aus Indien: „All We Imagine as Light“ von Payal Kapadia.
Endlich wieder ein Cannes-Beitrag aus Indien: „All We Imagine as Light“ von Payal Kapadia.Festival De Cannes

Alles andere als subtil war hingegen „The Substance“, der erste komplett englischsprachige Film der französischen Genre-Regisseurin Coralie Fargeat. Diese hat bereits mit ihrem Erstling, „Revenge“, gezeigt, dass sie keine Gefangenen nimmt, wenn es darum geht, Misogynie im Kino an den Pranger zu stellen. In ihrem Folgewerk schlägt sie noch stärker über die Stränge. Demi Moore brilliert darin als eine TV-Vorturnerin, die von einem chauvinistischen Produzenten namens Harvey (Dennis Quaid) geschasst wird, weil sie aus seiner Sicht das Verfallsdatum für Frauen im Fernsehen überschritten hat.

Abhilfe schafft eine enigmatische Substanz, deren Injektion ein „zweites Ich“ – gespielt von Margaret Qualley – hervorzaubert. Dieses Ich ist viel jünger, schöner, straffer, eine ideale Projektionsfläche für männliche Sexfantasien. Aber die Sache hat einen Haken, der sich im Körper der Hauptfigur verfängt. Was dazu führt, dass die Leinwand in einem Blutbad untergeht. Ein Spektakel, gerade groß genug für Cannes.

Preise

Goldene Palme

„Anora“ von Sean Baker

Großer Jurypreis

„All We Imagine as Light“ von Payal Kapadia

Preis der Jury

„Emilia Pérez“ von Jacques Audiard

Beste Regie

Miguel Gomes („Grand Tour“)

Bester Darsteller

Jesse Plemons („Kinds of Kindness“)

Beste Darstellerinnen

Karla Sofía Gascón, Selena Gomez und Zoe Saldana („Emilia Perez“)

Bestes Drehbuch

Coralie Fargeat („The Substance“)

Spezialpreis der Jury

Mohammad Rasulof („The Seed of the Sacred Fig“)

Preis der Nebensektion Un Certain Regard

Guan Hu („Black Dog“)

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