Chorprobe am Eismeerstrand

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Sie wollen zum Nordkap? Vergessen Sie's“, winkt die amerikanische Seniorin ab...

Sie wollen zum Nordkap? Vergessen Sie's“, winkt die amerikanische Seniorin ab. Der Rummel und Nepp am nördlichsten Punkt Europas sei nichts für die Globetrotterin. Sie sei froh, dass sie das Postschiff in das einige Stunden entfernte Berlevåg verschlagen hat, ein malerisches Fischerdorf an der norwegischen Eismeerküste. Und dort ging's dann direkt in die Pension von Daniela und Dieter Salathé, wo Gäste aus aller Welt bei Kaffee und Waffeln gemütlich plaudern.

Vor vielen Jahren sind die Salathés nach einer Motorradweltreise in Berlevåg hängengeblieben. In der heimatlichen Schweiz war es den beiden zu eng geworden, so tauschten sie berufliche Sicherheit gegen eine vage Zukunft. Ein Entschluss, den beide nicht bereut haben: Dieter leitet inzwischen die Touristeninfo und eröffnete eine kleine Pension mit Campingplatz. Daniela, gelernte Apparateglasbläserin, hat sich als Künstlerin etabliert und verkauft ihre Schmuckstücke aus Glas in ganz Norwegen.

Nicht, dass sie in einer offensichtlichen Idylle gelandet wären – der Nordrand der Varanger-Halbinsel macht auf den ersten Blick einen fast lebensfeindlichen Eindruck. Doch die in ihrer Kargheit bezaubernde Region bietet vielen Pflanzen und Tieren Lebensraum. Am feinkörnigen Strand des Sandfjordes stochern Sandregenpfeifer und Austernfischer nach Futter, auf den vorgelagerten Felsen trocknen Kormorane ihr Gefieder. Im Windschatten der Dünen wuchern Margeriten, in den Vorgärten der bunten Holzhäuser wiegen sich Wiesenblumen in der Mitternachtssonne.

Das menschenleere Landesinnere strukturieren sanfte Hügel, an deren Hängen sich Beerensträucher festkrallen. Auf den nur 300 Meter hohen Plateaus – den Fjells – betreten Wanderer eine Mondlandschaft aus Geröll.

Trotz der exponierten Lage gehört die Eismeerküste zu den klimatisch gemäßigten Regionen Norwegens. Im meist niederschlagsarmen Sommer sind Temperaturen um die 20 Grad keine Seltenheit, dann suchen die Rentiere gern den Schatten eines Straßentunnels. Im Winter sorgt der warme Golfstrom für ein gemäßigtes Klima: Nur selten zeigt das Thermometer in Berlevåg unter zehn Grad Minus, im Landesinneren dagegen werden manchmal bis zu 50 Minusgrade gemessen.

Dennoch bleibt das Leben entlang der sturmgepeitschten Nordostküste Norwegens bis heute ein Kampf mit den Naturgewalten. Wenn im Winter Orkane über dem Eismeer toben, türmen sich bis zu zehn Meter hohe Wellen. Immer wieder spülten die Wassermassen die Hafenmole in die aufgewühlte See. Kaum hatte man die Schäden repariert, machten Stürme die Sisyphosarbeit erneut zunichte. Erst nach 100 Jahren gelang es, die Mole dank neuer Technik dauerhaft zu sichern. Mehr als 10.000 Tonnen Betonblöcke, die wie ein Puzzle verbunden sind, bieten nun Schutz vor dem Meer.

Fischer auf dem Trockenen

Die Existenz der Bewohner wurde auch von den Fangflotten bedroht; sie haben das Eismeer in den letzten Jahrzehnten fast leer gefischt. „Die englischen Fischer wüteten wie die Piraten“, schimpft Lehrer Karl Astrup, der das Hafenmuseum leitet. Noch in den 20er Jahren landete eine Armada von Booten in Berlevågs Hafen jährlich 19 Millionen Kilo Fisch an, 1989 betrug die Fangmenge nur noch drei Millionen. Von den einst 150 Booten sind nur 30 geblieben.

Bleibt der Fisch aus, gehen auch die Menschen, und so hat sich die Einwohnerzahl in den letzten 30 Jahren fast halbiert. Erst seit Norwegen entlang der Küste den Anspruch auf eine 200-Meilen-Zone erhebt, hat sich die Fangmenge wieder erhöht und die Zahl der Bewohner Berlevågs stabilisiert.

Die wenigen Touristen leisten indes nur einen bescheidenen Beitrag zum Überleben. Und im Winter finden höchstens eingefleischte Nordlandfans den Weg ans Ende der Welt; wegen der Schneewehen ist die Zufahrt nur geöffnet, wenn der Schneepflug fährt.

Aus der isolierten Lage soll man nicht automatisch auf die Infrastruktur schließen. In den Geschäften gibt es alles, nicht nur Lebensnotwendigkeiten. Das Angebot im Kolonialwarenladen von Bjørn Neergård reicht vom Nachttopf bis zum Angelgerät. Scheren für Linkshänder? Bjørn hat gleich mehrere zur Auswahl. Und bei Reidar Svendsen bekommt man Dessous ebenso wie Kühlschränke oder Motorboote.

Stimmen gegen Dunkelheit

Ein Hallenbad, eine Bibliothek, zwei Theatergruppen und ein Jugendclub schaffen Abwechslung. Man trifft sich gern zu Tupperware-Partys. Und gegen Trübsal hat auch schon einmal Leilas Aromatherapie geholfen. Den originellsten Beitrag zur Vertreibung dunkler Stunden aber leistet der Chor vom Ende der Welt, der „Berlevåg Mannsangforening“: Der Film „Heftig og beigeistret“ brachte Berlevåg internationale Bekanntheit ein – die Doku über die älteren Herren mit den tiefen Stimmen geriet zu einem echten Kassenschlager. Der Chor existiert schon seit 1917; mit dem Film von Knut Erik Jensen kam 1999 der große Erfolg: Konzerte in Murmansk toppten plötzlich Auftritte bei Mega-Festivals wie in Roskilde.

Eine andere Art Kino spielt sich am Himmel ab. Daniela Salathé hat keine Probleme mit der langen arktischen Finsternis, denn „der Winter ist die eigentlich interessante Zeit. Da liefern die Polarlichter eine himmlische Lightshow.“ Naturfotografen begeistert überdies das fahle blaue Licht der Dämmerung, die am Nachmittag die Dunkelheit für einige Stunden aufhellt.

Bei aller Romantik sehnen die Bewohner Berlevågs spätestens im Jänner die ersten Sonnenstrahlen herbei. Die Regionalzeitung zählt die Tage, bis die Sonne wieder über den Horizont lugt. Und was interessiert die Lokalpresse schon das internationale Geschehen, wenn es über Fischfang und Familienzuwachs zu berichten gibt?

Aber die heile Welt zeigt auch Risse: Selbst die kleinen Orte am Eismeer sind von Drogen nicht verschont geblieben. Båtsfjord halten einige gar für das „Chicago des Nordens“; sicherlich eine Übertreibung, denn die Kriminalität hält sich in Grenzen. Angst vor Autodiebstählen ist offenbar kein Thema; während des Einkaufs lassen die Kunden ihre Wagen mit laufendem Motor stehen. Trotz des ziemlich hohen Benzinpreises. Der Versuch des Schweizer Ehepaars, ihr Dorf mit Flugblättern zu mehr Umweltbewusstsein zu erziehen, blieb bisher ohne großen Erfolg.

Abgesehen davon sind die beiden Eidgenossen zu waschechten Norwegern mutiert. Dazu gehört die Leidenschaft für Rentierfleisch, Lachsfilet, Walschwarte – und für das Wochenendhäuschen. Manche Norweger sind in ihre „Hytta“ so verliebt, dass sie ein Bild von ihr in der Brieftasche herumtragen. Die bunten, oft sehr komfortablen Holzhäuschen liegen verstreut an lachsreichen Flüssen oder besonders schönen Küstenabschnitten. Auch das ehemalige Fischerdorf Store Molvig dient nun als Feriendomizil; man hat hier einen Traumblick über den Tanafjord bis zur Halbinsel Nordkinn. In den blühenden Vorgärten grasen wild lebende Rentiere, am Strand grundeln bunt gefiederte Gänsesäger im Tang.

Kururlaub dank Flaschenpost

Der steinige, mit Treibholz, Tauen und Schiffsteilen übersäte Strand zeugt von wilden Stürmen. Das Meer spuckt manchmal Gerippe von weißen Belugawalen aus, die sich vor der Küste der Varanger Halbinsel tummeln. Dieter Salathé wurde fündig: Wie eine moderne Skulptur ziert nun ein mehrere Kilo schwerer Wal-Rückenwirbel den Campingplatz.

Die Episode mit einem anderen Findling klingt wie ein Märchen: Bjarne Jenssen entdeckte beim Strandspazieren eine Flaschenpost, die ein Schweizer Ehepaar nahe dem Nordkap ins Meer geworfen hatte. Bjarne schrieb an die Absender, die ihn daraufhin besuchten. Nun steht für den Norweger eine Reise in die Schweiz an. Und die Kosten tragen seine Gastgeber, auch für die Kur des angeschlagenen Pensionisten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2007)

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