Deutschland: Mindestlohn bringt Staat Milliarden

German Finance Minister Wolfgang Schaeuble arrives at news conference to present 2015 federal budget draft in Berlin
German Finance Minister Wolfgang Schaeuble arrives at news conference to present 2015 federal budget draft in Berlin(c) REUTERS
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2015 tritt in Deutschland der flächendeckende Mindestlohn in Kraft. Dem Fiskus bringt das Zusatzeinnahmen in Milliardenhöhe – Ökonomen warnen aber vor den Langzeitfolgen.

Wien. Es ist noch nicht lange her, dass Deutschland der „kranke Mann Europas“ war. Und noch kürzer, dass die damalige Regierung jene Reformen einführte, die das Land von der schiefen Bahn holten. Durch eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes und deutliche Kürzungen von Sozialleistungen. Die Reformen waren unpopulär – aber effizient: Sie gelten als hauptverantwortlich dafür, dass Deutschland heute besser dasteht als der Rest Europas.

Durchgeboxt wurden die ungeliebten „Hartz“-Reformen von der rot-grünen Koalition unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder. Eine konservative Regierung hätte so liberale Maßnahmen wohl niemals durchgebracht.

Heute, zehn Jahre später, ist es umgekehrt. In Deutschland regiert die Große Koalition, geführt von den Christdemokraten. Aber ihre Politik trägt eine linke Handschrift. Jüngstes Projekt: der flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, der am Donnerstag mit großer Mehrheit im Bundestag beschlossen wurde und nächstes Jahr in Kraft tritt. Er gilt laut Angaben der Regierung in Berlin für rund 3,7 Millionen Menschen, die derzeit weniger verdienen. Ausgenommen sind Jugendliche unter 18 Jahren und Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten Beschäftigung.

Was die Regierung nicht dazusagt: Der Mindestlohn ist nicht ausschließlich eine gute Tat, um Menschen zu einem höheren Gehalt zu verhelfen. Der größte Profiteur ist der Staat. Eine Milliarde Euro Einkommensteuern dürfte zusätzlich pro Jahr in die Staatskasse fließen, zeigt eine Berechnung des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung (IAB). Die Einnahmen der Sozialversicherung dürften laut der Prognose um 2,9 bis 4,5 Milliarden Euro im Jahr steigen. Unter dem Strich könnte die öffentliche Hand um 2,2 bis drei Milliarden Euro im Jahr entlastet werden, sagte Jürgen Wiemers vom IAB zur „Rheinischen Post“.

Experten befürchten Jobkiller

Dieser für die Regierung angenehme Effekt trete aber nur ein, wenn keine Beschäftigung verloren geht, wie Wiemers einschränkte. Das ist keineswegs sicher. Im Gegenteil: Viele Ökonomen vermuten im Mindestlohn einen Jobkiller, der die Wettbewerbsfähigkeit des Landes in Mitleidenschaft ziehen wird. Der Mindestlohn werde bereits im ersten Jahr 200.000 Arbeitsplätze kosten – zum Teil durch Kündigungen, zum Teil dadurch, dass weniger Stellen geschaffen werden. Das prognostizierten die fünf führenden Wirtschaftsinstitute Deutschlands im April. Sie sehen im Mindestlohn einen Wermutstropfen in der ansonsten rosigen Prognose für die deutsche Volkswirtschaft. Für heuer wird mit 1,8 Prozent Wachstum gerechnet. Nur deshalb werde die Arbeitslosenquote nicht steigen, sondern bei 6,7 Prozent verharren.

Die deutschen Wirtschaftsweisen sehen jeden fünften Arbeitsplatz durch die gesetzlich verordnete Lohnerhöhung gefährdet. Ihr Chef, Christoph Schmidt, warnte zuletzt eindringlich vor den Folgen: „2013 könnte im Negativen tatsächlich das Wendejahr für Deutschland gewesen sein“, sagte er Ende des Vorjahres zur „Welt“. Durch diesen Weg könne Deutschland „wieder zum Kranken Mann Europas werden“, so Schmidt.

Rückbau der Reformen

Besonders problematisch könnte der Mindestlohn für die Wirtschaft Ostdeutschlands werden, wo das Lohnniveau niedriger ist als im Westen. Das Wirtschaftswachstum in den ehemaligen Ländern der DDR dürfte heuer zwar mit jenem des Westens mitziehen und 1,8 Prozent betragen, nächstes Jahr dann zwei Prozent, hieß es von der Dresdner Niederlassung des Münchner Ifo-Instituts am Freitag. Dies werde auf dem Arbeitsmarkt aber kaum Widerhall finden – unter anderem wegen des Mindestlohns: Heuer werde die Beschäftigung nur um 0,2 Prozent steigen, nächstes Jahr sogar um 0,1 Prozent zurückgehen, so das Ifo.

Der Mindestlohn ist nur eine von mehreren Maßnahmen, mit der die Schröder-Reformen teilweise wieder zurückgebaut werden. Seit Juli können Arbeitnehmer in Deutschland nach 45 Beitragsjahren mit 63 in Rente gehen. Ähnlich der österreichischen Hacklerregelung. Deren Folgen sind bekannt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2014)

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