Der Machtkampf der Milizen

In die zerstörte Tripolis-Straße in Misrata kehrt das Leben zurück. Zwischen Kriegsruinen hat ein Möbelgeschäft eröffnet.
In die zerstörte Tripolis-Straße in Misrata kehrt das Leben zurück. Zwischen Kriegsruinen hat ein Möbelgeschäft eröffnet.Wieland Schneider
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Ein neu gewähltes Parlament soll Libyen aus der Misere führen. Doch einflussreiche Städte und bewaffnete Gruppen diktieren die Politik.

Mohammed atmet tief durch. „Davon hatten wir nicht geträumt, als wir vor drei Jahren für ein neues Libyen kämpften“, sagt der 28-jährige Arzt mit bebender Stimme und deutet auf das Autowrack am Straßenrand. Die Karosserie des Fahrzeugs ist verbrannt und auf der Seite verbeult, als hätte ein wütender Riese hineingetreten. Die Scheiben sind geborsten, Lichter und Reifen existieren nicht mehr. Vor wenigen Tagen tobten hier in Siyahiya, im Westen der libyschen Hauptstadt Tripolis, wilde Schießereien. Erst nur mit Kalaschnikows, dann mit schweren Maschinengewehren und Panzerabwehrrohren.

Begonnen hatte alles mit einer Kontrolle an einem Checkpoint. Kämpfer der Sawaq-Brigaden aus der Stadt Zintan stoppten ein Auto mit getönten Scheiben. Die Milizionäre, offiziell dem Innenministerium unterstellt, nahmen den Fahrer vorübergehend fest, da dieser angeblich nicht die nötigen Papiere bei sich trug. Damit sprachen sie eine Kriegserklärung aus. Denn der Fahrer war einer der Chefs der gefürchteten Miliz Fursan Janzour, der „Ritter von Janzour“, aus Westtripolis. Nach zwei Nächten verbissener Gefechte schweigen die Waffen wieder. Doch in Libyens Hauptstadt fürchtet man, dass beide Seiten bereits eifrig für die nächste Runde rüsten. In den Cafés kursieren Gerüchte, die Flughafenstraße könnte schon bald Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen werden.

Die Spuren der Kämpfe zwischen verfeindeten Milizen im Westen von Tripolis.
Die Spuren der Kämpfe zwischen verfeindeten Milizen im Westen von Tripolis.Wieland Schneider

Libyen wird drei Jahre nach dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi von den Machtkämpfen bewaffneter Gruppen heimgesucht. Die Konflikte speisen sich aus der politischen Rivalität der Player: der einflussreichen Städte wie Misrata und Zintan, der libyschen Muslimbruderschaft und ihrer sogenannten säkularen Gegner. Und oft geht es auch nur um Revierkämpfe lokaler Gangs. Die offizielle Regierung besitzt kaum Macht, und zahllose Milizen sind bis an die Zähne bewaffnet.


Dschungel der Machtkämpfe. Auch Mohammed gehörte einst einer Miliz an. Doch heute will der Arzt vom Kämpfen nichts mehr wissen. Er hat sein Medizinstudium abgeschlossen und arbeitet in einem Spital. „Damals, als ich in einer Miliz war, ging es um etwas anderes“, sagt er. „Es ging darum, ein Regime zu stürzen.“ Damals, das war 2011, als Mohammed mit anderen Rebellen von den Bergen Westlibyens nach Tripolis marschierte, um Gaddafi zu vertreiben. Längst ist der Diktator tot, umgebracht von Aufständischen, denen er in die Hände gefallen war. Das Land hat seine Herrschaft abgeschüttelt und einen Weg begonnen, der zu mehr Freiheit, Mitbestimmung und Würde führen sollte – zu dem, was sich Mohammed und viele andere junge Libyer so sehnlich gewünscht hatten. Doch der Weg ist steinig, und Libyen ist auf ihm gehörig ins Stolpern geraten.

Um wieder Tritt zu fassen, wurden am 25. Juni Parlamentswahlen abgehalten, bei der die Libyer nicht über Parteien, sondern über einzelne Kandidaten abstimmten. Vor wenigen Tagen wurden die Ergebnisse bekannt gegeben: Die meisten Stimmen erhielt Hanan Shalouf, dicht gefolgt von Ex-Premier Mustafa Abushagur (siehe Interview). Der Professor mit dem weißen, kurz geschnittenen Vollbart ist ein erfahrener Politiker. Nach dem Ende des Gaddafi-Regimes war er Vizepremier, dann glückloser Kurzzeit-Regierungschef. Jetzt ist er für das Amt des Parlamentspräsidenten im Gespräch. Doch auch dieses Mal würde es für ihn nicht leicht werden, sich im Dschungel der Machtkämpfe zu behaupten.


Morde an der Tagesordnung. Zwei Premierminister verloren innerhalb weniger Monate das Amt. Im Osten Libyens treiben Extremistengruppen wie Asar al-Sharia ihr Unwesen. In Bengasi, der wichtigsten Stadt im Osten, sind Morde an der Tagesordnung. Ende Juni wurde Salwa Bughaighi erschossen. Die Anwältin stand beim Aufstand Bengasis gegen Gaddafi in der ersten Reihe. Vor ihrem Tod machte sie sich zahlreiche neue Feinde, weil sie für Frauenrechte eintrat.

Den Osten hat sich auch General Khalifa Haftar als Schlachtfeld für seinen ganz eigenen Krieg auserkoren. Haftar diente einst Gaddafi, in den Achtzigerjahren setzte er sich in die USA ab. 2011 kehrte er zurück und schloss sich den Rebellen an. Jetzt hat er andere Offiziere und mehrere Milizen um sich geschart. Anfangs griff er mit seiner neuen Libyschen Nationalarmee Gruppen wie Ansar al-Sharia an. Doch mittlerweile hat er viel weitergehende Ziele formuliert: Er will in Libyen die Macht übernehmen und die „Islamisten vertreiben“ – nach Vorbild der Generäle im Nachbarland Ägypten. Doch Haftar verfügt nicht über die Mittel des ägyptischen Militärs. Im Westen des Landes regt sich bereits Widerstand gegen die Ambitionen des Generals – besonders bei den Milizen und Städten, die den Muslimbrüdern nahestehen.

Auf Gegnerschaft stößt Haftar vor allem in Misrata, einer der mächtigsten Städte im Westen, in der die Bruderschaft stark ist. Während der Revolution wurde Misrata monatelang von Gaddafis Truppen belagert. Das hat tiefe Spuren hinterlassen. Die Tripolis-Straße, damals am heftigsten umkämpft, säumen Ruinen. Ein ausgebrannter Wohnblock reiht sich an den nächsten. Doch dazwischen ist wieder das Leben zurückgekehrt.

Vor einem zerstörten Haus in Misratas Tripolis-Straße wirbt ein Schild für ein neues Fünfsterne-Hotel.
Vor einem zerstörten Haus in Misratas Tripolis-Straße wirbt ein Schild für ein neues Fünfsterne-Hotel.Wieland Schneider

Gleich neben einem mehrstöckigen zerstörten Gebäude hat das Möbelgeschäft Kairouan Furniture Co. eröffnet. Vor einer Hauswand mit gewaltigen Einschusslöchern preist ein Plakat Übernachtungen im Luxus an. Es wirbt für das Almasa Hotel, das vor fünf Monaten gleich in der Nähe eröffnet hat. Das Fünfsternehotel bietet 90 topeingerichtete Zimmer, einen Spa-Bereich und Konferenzräume. „Wir haben eine neue Wirtschaftsstrategie für Misrata entwickelt, mit Plänen für Tourismus und Shoppingcenter“, sagt Mohammed Eltumi stolz. Der Mann im dunkelblauen Anzug ist General Manager des Libya Businessmen Council, einer Vertretung von 300 Geschäftsleuten aus Misrata. Und er gehört dem neu gewählten Stadtrat an. Misrata war eine der ersten Städte Libyens, die nach der Revolution eine neue Verwaltung aufbaute. Der Seehafen ist längst wieder in Betrieb. Die Wirtschaft läuft gut. Eltumi schmiedet Pläne, wie noch mehr ausländische Investoren in die Stadt gelockt werden können. „Hier in Misrata funktioniert alles“, sagt er. „Und hier gibt es Sicherheit.“

Ahmad stimmt dem zu. „Ja, bei denen in Misrata ist es sicher“, sagt der junge Elektrotechniker. „Doch hier in Tripolis sorgen Misratas Milizen für Unsicherheit“, fügt er erbost hinzu. Immer wieder zwangen die Truppen aus Misrata den Politikern in der Hauptstadt ihren Willen auf. Misrata nimmt den Nimbus einer „Heldenstadt“ für sich in Anspruch, die mit ihrem Durchhaltevermögen die Revolution gerettet hat. Misratas großer Rivale ist Zintan. Die Kleinstadt am Rande der Nafusa-Berge zehrt noch heute von ihrer wichtigen strategischen Rollen während des Aufstandes gegen Gaddafi. Zintans Brigaden halten in Tripolis neuralgische Punkte wie den Flughafen unter ihre Kontrolle – und geraten sich immer wieder mit den Misrata-Milizen in die Haare.

Misratas neues Almasa Hotel wartet mit 90 Luxuszimmern auf.
Misratas neues Almasa Hotel wartet mit 90 Luxuszimmern auf. Wieland Schneider


Angst vor dem Showdown. „Misrata und Zintan sollen endlich ihre Kämpfer von hier abziehen“, schimpft Ahmad. Er sitzt mit seinen Freunden auf der Terrasse eines Cafés unweit des Märtyrerplatzes in Tripolis. Jetzt im Fastenmonat Ramadan genießen hier zahllose Gäste die Abende zwischen Palmen und den hohen Bauwerken in altem italienischen Stil. Das beschauliche Flair täuscht über die fragile Lage in der Hauptstadt hinweg. Es gibt immer mehr Entführungen. Und die Angst vor einem Showdown zwischen den Milizen wächst. Immer mehr ausländische Firmen und Botschaften ziehen ihr Personal ab.

Ahmad und seine Freunde trinken Cappuccino und tun dabei etwas, was zu Zeiten Gaddafis so nicht möglich gewesen wäre: Sie diskutieren lautstark über Politik. Von Sympathisanten der Muslimbrüder bis zu Unterstützern Haftars ist am Tisch alles vertreten. In einem sind sich aber alle einig: Libyen muss endlich zur Ruhe kommen.

„Vielleicht wird es ja in ein paar Jahren besser“, sagt Mohammed und blickt noch einmal nachdenklich zum ausgebrannten Autowrack, dem Überbleibsel der Gefechte in Siyahiya. Noch hegt er Hoffnungen, dass seine Vision eines neuen Libyen doch noch Wirklichkeit werden könnte. Die Vision, für die er zur Waffe gegriffen hatte, um gegen Gaddafi zu kämpfen. Doch in den vergangenen Monaten sind seine Zweifel gewachsen. Er denkt immer öfter daran, nach Kanada gehen, um dort als Arzt zu arbeiten. Und dort seine Träume von einer besseren Zukunft zu verwirklichen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2014)

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