Wenn Paranoia der Normalzustand ist

In der Welt der US-Geheimdienste gibt es die Kategorie „unverdächtig“ nicht. Man muss vor einem Land zittern, das glaubt, 680.000 Terroristen zu kennen.

Es ist immer wieder interessant, mit welch schlechtem Gefühl man als Feriengast in die USA einreist. Nicht nur, weil man sich bei der verpflichtenden Internetregistrierung bereit erklären muss, jede Entscheidung des Einreisebeamten anzuerkennen und nicht dagegen zu berufen (es wurde schon Touristen von den oft machtberauschten, arroganten und rüden Grenzern die Einreise verwehrt, nur weil sie ungehalten auf Fragen reagierten). Sondern vor allem auch, weil man nie weiß, ob nicht irgendjemand irgendwo auf dieser Welt mit einem ähnlichen Namen einem der 16 US-Geheimdienste auffiel.

Paranoid? Mitnichten, wenn man sich Beispiele aus der Vergangenheit anschaut. 2003 wurde etwa ein deutscher Staatsbürger von CIA-Beamten entführt und monatelang in einem Foltergefängnis in Afghanistan festgehalten, weil man ihn für einen Terroristen hielt. Als man schließlich feststellte, dass es sich um eine Verwechslung handelte, setzte man ihn irgendwo in Albanien aus.

In der aktuellen, sehenswerten Dokumentation "The Newburgh Sting" wird beleuchtet, wie FBI-Undercoverbeamte vier New Yorker 2009 dazu brachten - ja, geradezu nötigten -, an einem Terrorkomplott teilzunehmen. Man spielte den Fall damals zum großen Schlag gegen den Terror hoch, obwohl es sich in Wirklichkeit um eine Dilettanten-Truppe handelte. Der Richter befand bei der Verurteilung: "Ich bin nicht stolz darauf, was meine Regierung in diesem Fall gemacht hat."
Und 2004 musste der mittlerweile verstorbene, prominente US-Senator Edward Kennedy wochenlang darum kämpfen, von der "No-Fly"-Liste gestrichen zu werden. Er hatte ständig Probleme am Flughafen, weil irgendwann ein vermeintlicher Terrorist den Namen "T Kennedy" als Pseudonym verwendet hatte. Nelson Mandela wurde übrigens erst 2008 von der Liste genommen, nachdem die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice das "eher peinliche" Faktum herausfand.

Nein, als Besucher der USA leidet man nicht unter Wahnvorstellungen, wenn man ein ungutes Gefühl hat. In einem Land, in dem Paranoia der Normalzustand der Exekutive und der Geheimdienste ist, gibt es die Kategorie "unverdächtig" nicht.

Man sieht es jetzt wieder dank der Enthüllungen eines weiteren Geheimdienstmitarbeiters. Demnach gelten für die USA 680.000 Menschen als "bekannte oder mutmaßliche Terroristen". 280.000 davon müssten freilich als freiberufliche Terroristen tätig sein, weil sie in keinerlei Beziehung zu irgendeiner der bekannten Terrororganisationen stehen. Um 680.000 in eine Relation zu bringen: Die Mitglieder von al Qaida werden weltweit auf einen niedrigen vierstellige Zahl geschätzt; die breite fundamentalistische Bewegung "Islamischer Staat" soll im Irak und Syrien aktuell zwischen 15.000 und 20.000 Mitglieder haben; und ein US-General sprach 2012 von insgesamt 35.000 Taliban, die in Afghanistan aktiv sein sollen.

Die Sammel- und Abhörwut der NSA, die uns Edward Snowden enthüllte, wird nur dafür sorgen, dass diese Liste noch weiter wächst. Zudem gibt der "Patriot Act" den Behörden alle Instrumente in die Hand, um jede Auffälligkeit zu registrieren: Wer welche Bücher kauft, und wenn sich darunter viele einschlägig verdächtige befinden, bekommt der Leser Besuch vom FBI; die Exekutive darf ohne richterliche Genehmigung Wohnungen durchsuchen und Verdächtige ohne Recht auf einen Anwalt monatelang festhalten; sie darf in einem Verfahren Beweise verwenden, denen der Angeklagte nichts entgegenhalten kann, weil sie im Interesse der nationalen Sicherheit geheim bleiben. Das Prinzip, dass staatliches Handeln stets berechenbar und immer rechtlich überprüfbar sein und sich der Staat in all seinem Handeln an den Grund- und Freiheitsrechten orientieren muss, gilt in diesen USA nicht. Und es ist nur ein kleiner Schritt hin zu staatlichen Willkür.

US-Präsident Barack Obama hat vor wenigen Tagen in Zusammenhang mit dem Umgang mit Terrorverdächtigen - sehr zum Unmut vieler Amerikaner - erstmals von "Folter" gesprochen und davon, dass "wir einige Dinge gemacht haben, die falsch waren". Vielleicht sieht der nächste oder übernächste Präsident, dass die USA mit dem Realität-gewordenen Orwell`schen 1984 weit übers Ziel geschossen haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2014)

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