„Ruhig, aber aufregend“: Ein Wahlkampf, der die Türkei verändert hat

A man casts his ballot at a polling station during presidential elections in Istanbul
A man casts his ballot at a polling station during presidential elections in Istanbul(c) REUTERS (OSMAN ORSAL)
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Rund 53 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, erstmals den Präsidenten direkt zu wählen.

Wien/Ankara. Im Kongresszentrum Ankara lagen den ganzen Sonntag etliche schwere Säcke in grellem Orange herum. Erst nach 17Uhr, nachdem die Wahllokale landesweit geschlossen hatten, nahmen sich mehrere tausend Helfer der Säcke an: Es waren die Wahlstimmen der Auslandstürken, die parallel zu den inländischen ausgezählt wurden. Am Sonntag wurde in der Türkei nicht nur der Präsident erstmals direkt vom Volk gewählt. Auch die im Ausland lebenden Staatsbürger hatten zum ersten Mal die Möglichkeit, extern ihre Simme abzugeben. Nur war diese Kampagne entgegen aller Erwartungen nicht so erfolgreich: Von den rund 2,7 Millionen Staatsbürgern im Ausland gaben nur rund 230.000 ihre Stimme ab – die meisten übrigens in München und Hannover.

53 Millionen Wahlberechtigte wurden am Sonntag zu den Urnen gerufen. Die Politiker gaben wie gewohnt am letzten Tag der Wahl an der Urne für die Medien ein Resümee ab: Für den derzeitigen Premier und Präsidentschaftskandidaten Recep Tayyip Erdoğan war der Wahlkampf „ruhig, aber enthusiastisch und aufregend“. Er hoffe auf eine hohe Wahlbeteiligung. Erdoğan gab seine Stimme mit seiner Familie wie immer im Istanbuler Stadtteil Üsküdar ab.

Auch Ekmeleddin Ihsanoğlu, der gemeinsame Kandidat der republikanischen CHP und der nationalistischen MHP, schritt in Istanbul zur Urne – und kritisierte „einen unfairen Wahlkampf unter ungleichen Umständen“. Ihsanoğlu wird Erdoğan unterliegen, wobei eine Stichwahl zwischen den beiden zumindest als möglich galt. Der (als chancenlos geltende) dritte Kandidat, Selahattin Demirtaş von der Kurdenpartei, blieb im Osten des Landes und gab seine Stimme in Diyarbakir ab.

Die Wahl wurde im Land freilich mit enorm viel Interesse verfolgt: Bilder zeigen junge und alte Menschen an den Urnen, Brautpaare haben sich in den Wahllokalen ebenso ablichten lassen wie Starlets und ehemalige Politiker. So hat sich der Alt-Präsident Süleyman Demirel (90) mit sichtlich viel Mühe zur Urne begeben.

Ein Dorf boykottiert die Wahl

Kurz vor dem Urnengang haben alle drei Kandidaten die Wahlkampfspenden veröffentlicht: Demnach erhielt Erdoğan rund 55 Mio. Lira (19 Mio. Euro), Ihsanoğlu rund 8,5 Mio. Lira (rund drei Mio. Euro) und Demirtaş 1,2 Mio. Lira (400.000 Euro). Für Verwirrung sorgte Ihsanoğlu während des Wahlkampfes, als er seinen beiden Kontrahenten jeweils 1000 Lira spendete – als eine Geste für eine faire Kampagne. Erdoğan ließ die Summe umgehend – „und mit Dank“ – rücküberweisen, während Demirtaş bemängelte, dass der Premier ohnehin viel Geld bekommen würde; Ihsanoğlu hätte ihm lieber 2000 Lira überweisen sollen. Kritisiert wurde von den Oppositionskandidaten auch der Staatssender TRT, der dem Wahlkampf Erdoğans unverhältnismäßig viel Raum eingeräumt und ihre Anliegen vernachlässigt hätte.

In die Medien schaffte es unterdessen auch ein 600-Seelen-Dorf nahe Şanliurfa, das geschlossen die Wahl boykottiert hatte. Bei den Kommunalwahlen sei ihnen die Lösung ihrer Verkehrs- und Elektrizitätsprobleme versprochen worden, passiert sei allerdings nichts. Bis zum Nachmittag ist niemand zur Wahlkabine gegangen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2014)

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