Die Demokratie-Proteste in Hongkong vermiesen der Peking-treuen Stadtregierung den chinesischen Nationalfeiertag. Die Aktivisten drohen mit Besetzung der Regierungsgebäude.
Eigentlich will Hongkongs Regierungschef Leung Chun-ying an diesem Mittwoch feiern. 65 Jahre ist es her, dass Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Volksrepublik ausrief. Und weil Hongkong die längste Zeit nicht Teil dieses Chinas war, möchte Leung seine KP-Treue umso pompöser zur Schau stellen.
Der Tag sollte eigentlich mit dem feierlichen Hissen der chinesischen und Hongkonger Flagge beginnen. Doch es kommt anders: Kaum hat das Orchester die chinesische Nationalhymne beendet, ertönten Buhrufe der Demonstranten. „Wir wollen echte Demokratie“, rufen sie. Die chinesische Flagge ist nicht einmal vollständig hochgezogen, da verlassen die handverlesenen Gäste bereits die Tribüne – aus Angst, der Protest könnte auch sie treffen. Ein Feuerwerk am Abend wird abgesagt.
Seit vier Tagen blockieren Hongkonger zu Zehntausenden mehrere Geschäftsviertel der Sieben-Millionen-Metropole, unter anderem das Regierungs- und Finanzviertel. Sie fordern von Peking freie Wahlen, die diese Bezeichnung auch verdienen. Für 2017 hatte Peking versprochen, dass die Hongkonger ihren Regierungschef erstmals direkt wählen dürfen. Im August präzisierte die Führung ihre Vorgaben: Die Zahl der Kandidaten ist auf maximal drei minimiert, Peking will sie selbst aussuchen. Eine Farce, finden Hongkonger. Die Aktivisten fordern nun, dass Leung bis heute, Donnerstag, zurücktritt. Ansonsten wollen sie die Regierungsgebäude besetzen, drohen sie.
„Sehen so Chaoten aus?“
Liem Tai ist empört. „Schauen Sie sich doch um“, sagt der 21-jährige Physikstudent und zeigt auf die vielen jungen Leute um sich herum. Sie befinden sich auf dem Tamar-Platz vor dem gigantischen Betonklotz der Hongkonger Regierung. Direkt neben ihnen führt zwischen den gläsernen Bankentürmen eine große Zufahrt auf die Stadtautobahn. Doch Autos sind schon seit einer Woche keine mehr zu sehen. Stattdessen ist die komplette Straße besetzt mit campierenden Schülern und Studenten.
Sie fächern sich Luft zu. Einige von ihnen spielen Karten, andere mit ihren Smartphones, eine junge Schülerin macht ihre Schulaufgaben – inmitten der Blockade. Helfer verteilen Wasserflaschen und laufen mit schwarzen Müllsäcken herum. Sie haben weiße Gummihandschuhe an und sammeln jeden Papierschnipsel einzeln auf. „Sehen so Chaoten aus?“, fragt Tai.
In den Staatsmedien ist über die Demonstranten in Hongkong dennoch seit Tagen von „radikalen Elementen“ die Rede, von „Gewalttätern“ und einer „extremen Minderheit“. Die KP-Führung verurteilte die Demonstrationen als „illegale Versammlungen“, die den „sozialen Frieden“ gefährden.
Wie die meisten ihrer Mitstreiter trägt Tan (17) ein schwarzes T-Shirt. Militant sieht sie nicht aus. Auf dem T-Shirt prangt Angry Bird, die Animationsfigur des berühmten Smartphone-Spiels. „Wir Hongkonger mögen es halt verspielt“, sagt Tan. Und ebenso wiefast alle auf dem Platz hat auch sie sich eine gelbe Schleife angehängt, das Symbol für Solidarität. In Hongkong steht es seit Ausbruch der Proteste zusätzlich als Zeichen für Demokratie und freie Wahlen. „Wir wissen doch, was für ein korruptes System in China herrscht und wie Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Ich habe Angst, dass Hongkong auch so wird.“ Aus der geplanten Aktion, „nur“ den Verkehr des Finanz- und Regierungsviertels lahmzulegen, ist eine stadtweite Bewegung geworden. Aktivisten blockieren den Verkehr von mindestens drei weiteren Stadtteilen. Selbst die Polizei spricht von „mehreren hunderttausend Teilnehmern“.
Auch Touristen machen mit
Die Aktivisten haben ihren Protest auch auf das besonders unter chinesischen Festlandtouristen beliebte Einkaufsviertel Tsim Sha Tsui ausgedehnt – am Nationalfeiertag eigentlich der profitträchtigste Tag im Jahr. Doch viele der Edelboutiquen habe geschlossen. „Wir wollten eigentlich nach Hongkong zum Shoppen“, sagt eine Touristin vom chinesischen Festland. „Nun protestieren wir mit für mehr Demokratie“, freut sie sich. Ihren Namen will sie nicht preisgeben. Schließlich wolle sie auch wieder nach China einreisen können, sagt sie.
Noch am Vortag hatten Aktivisten befürchtet, Hongkongs Peking-treue Regierung könnte zum Nationalfeiertag die Blockaden räumen lassen. Dazu kommt es nicht. „Der Polizeieinsatz vom Sonntag steckt der Regierung noch in den Knochen“, sagt Tai. Am Abend des ersten Blockadetags hatten Bereitschaftspolizisten versucht, die friedlichen Blockierer mit Gewalt von der Straße zu vertreiben. Sie setzten Pfefferspray und Tränengas ein: „Dieser Schuss ging nach hinten los“, sagt Tai. „Seitdem sind wir ja noch mehr auf der Straße.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2014)