Sechs Kommissare im Kreuzfeuer

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Streit unter den großen Fraktionen: EVP wirft dem Sozialdemokraten Moscovici vor, er sei ein Kandidat wie aus George Orwells „Farm der Tiere“.

Brüssel. Die Glacéhandschuhe sind ausgezogen. Lange hatte es danach ausgesehen, als ob die Europäische Volkspartei (EVP) und die Allianz der Sozialdemokraten (S&D) ein informelles Stillhalteabkommen geschlossen hätten, um ihre Kandidaten für die Posten in der EU-Kommission nicht gegenseitig abzuschießen – nachdem die beiden größten Fraktionen im Europaparlament bei der Beschlussfassung aufeinander angewiesen sind und der designierte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit ihren Stimmen gewählt wurde, liegt es im Interesse der beiden Parteifamilien, während der Anhörungen der Kommissare in spe für ein gutes Gesprächsklima zu sorgen.

Doch dieser großkoalitionäre Burgfriede hielt gerade einmal 48 Stunden: Nachdem der spanische EVP-Kandidat Miguel Arias Cañete Mittwochabend von sozialdemokratischen Abgeordneten ins Eck gedrängt wurde, revanchierte sich die EVP am gestrigen Donnerstag während der Anhörung des französischen Sozialdemokraten Pierre Moscovici, der für den Posten des Wirtschafts- und Finanzkommissars vorgesehen ist.

Cañete gilt nicht erst seit Mittwoch als Problemfall. Der Spanier, der im Kolleg für die Agenden Klima und Energie verantwortlich sein soll, gibt aus drei Gründen eine exzellente Zielscheibe ab: erstens wegen seines Vorlebens als Umweltminister, zweitens wegen Sexismusvorwürfen und drittens wegen eines potenziellen Interessenskonflikts. Denn Cañete war Teilhaber von mehreren Ölunternehmen und hat seine Aktien erst vergleichsweise spät abgestoßen. Während sich der Spanier für seine frauenfeindliche Äußerung entschuldigte und so den Kritikern den Wind aus den Segeln nahm, hatte er punkto Interessenskonflikten einen schwierigeren Stand, denn Cañetes Schwager ist bei den besagten Firmen nach wie vor engagiert. In die Defensive geraten, verteidigte sich der Spanier mit dem Argument, Schwager würden nicht zur nahen Familie zählen und seien daher nicht relevant.

Wie es mit Cañete weitergeht, ist noch offen, denn auf Initiative der Sozialdemokraten wurde seine Beurteilung aufgeschoben – vor dem Votum müsse der Spanier Klarheit über Verbindungen von ihm bzw. seinen Familienmitgliedern zur Ölindustrie schaffen.

Klar ist hingegen, dass Jonathan Hill, der britische Kandidat für den Posten des Finanzmarktkommissars, nachsitzen muss: Die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses haben Zweifel an der fachlichen Qualifikation des Briten, er soll nun Anfang nächster Woche ein zweites Mal vorsprechen – dieser neuerliche „Meinungsaustausch“ ist ein Novum in der Geschichte der EU.

Fakten oder Taktik?

Möglich ist allerdings auch, dass diese Entscheidung nicht nur den Fakten, sondern auch der Taktik geschuldet ist. Zwar gehört Hill weder der EVP noch den Sozialdemokraten an (die in London regierenden Tories sind Mitglieder der drittgrößten Fraktion ECR) und gilt somit als parteipolitisches „Freiwild“. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass der Christdemokrat Juncker die Briten bei Laune halten will, um einen Austritt Großbritanniens aus der EU zu verhindern – daher auch die Vergabe des gewichtigen Portfolios an einen Euro-Outsider. Es liegt also im Interesse der EVP, ein Scheitern Hills zu verhindern – was man in der S&D weiß. Insofern kann seine Nachprüfung auch als Warnung der Sozialdemokraten an die Volkspartei interpretiert werden: Wenn ihr euch an Moscovici vergreift, machen wir euch Ärger, nicht nur bei Cañete, sondern auch bei Hill.

Die EVP spielte gestern jedenfalls nicht mit: Moscovici wurde wiederholt mit den Vorwürfen konfrontiert, er sei als Ex-Finanzminister des seriellen Defizitsünders Frankreich für den Posten ungeeignet und würde primär an das Wohl seines Landes denken. „Ich befürchte, dass Sie nach dem Prinzip von George Orwells ,Farm der Tiere‘ agieren werden – alle Tiere sind gleich, doch manche sind gleicher“, warnte die EVP-Abgeordnete Esther De Lange. Moscovicis Verteidigung: Erstens habe Frankreich keine Regeln gebrochen, sondern sie voll ausgenutzt, zweitens habe auch Berlin zehn Jahre für Strukturreformen gebraucht und drittens werde er kein Land bevorzugen.

Wie es mit Moscovici weitergeht, ist unklar – für die EVP war er „wenig glaubwürdig“, für die S&D „exzellent“. Mit Problemen haben auch weitere Kommissare in spe zu kämpfen: Die liberale Tschechin Věra Jourová (Justiz) und der Ungar Tibor Navracsics (Kultur). Die Entscheidung über die beiden Kandidaten wurde zunächst verschoben. Kritik gibt es auch an der slowenischen Kandidatin Alenka Bratušek. Ihr wird vorgeworfen, sie habe ihre Nominierung manipuliert.

(c) Die Presse

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2014)

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