Sicherheitspolitiker listen 40 brenzlige militärische Zwischenfälle zwischen Nato und Russland in den vergangenen Monaten auf. In der Ostukraine toben die schwersten Kämpfe seit der Waffenruhe.
Moskau/Kiew. Die Krise in der Ostukraine, wo derzeit die schwersten Kämpfe seit dem Waffenstillstandspakt im September toben, könnte zu einer direkten Konfrontation zwischen Moskau und dem Westen führen. In den vergangenen Monaten sei es mehrfach zu militärischen Zwischenfällen gekommen, die laut einem Bericht des „Spiegels“ in eine militärische Auseinandersetzung hätten münden können. Allein in den vergangenen acht Monaten habe es „40 brenzlige Situationen“ gegeben, schreibt das Magazin unter Berufung auf Sicherheitskreise in Europa.
Ganz besonders heikel sei die Situation im Oktober gewesen: Damals sei eine skandinavische Passagiermaschine fast mit einem russischen Aufklärungsflugzeug zusammengestoßen, das seine Position nicht übermittelt habe, zitiert der „Spiegel“ eine Studie des European Leadership Network (ELN) in London. Die Organisation ist ein Netzwerk aus prominenten Sicherheitspolitikern. Deren Studie soll am heutigen Montag veröffentlicht werden.
Bereits im Juli war ein Passagierflugzeug der Malaysian Airlines über der Ostukraine abgeschossen worden, alle 298 Insassen kamen ums Leben. Die Regierung in Kiew und der Westen gehen davon aus, dass prorussischen Separatisten, die nach wie vor die Region kontrollieren, die tödliche Rakete abgefeuert haben. Die Ermittlungen an Ort und Stelle und die Bergung der Leichen erwiesen sich als schwierig, da sie von den Rebellen – wie auch am Wochenende – immer wieder unterbrochen wurden. Die Opfer könnten vermutlich gar nicht alle geborgen werden, sagte der niederländische Außenminister, Bert Koenders.
Als „besonders kritische Ereignisse“ werden in der ELN-Studie auch die Entführung eines estnischen Geheimdienstlers sowie die Jagd der schwedischen Marine auf ein mutmaßliches russisches U-Boot genannt. Weitere elf Vorkommnisse schätze das Netzwerk ELN als „ernsthaft“ ein, weil sie „provozierend“ und „aggressiv“ gewesen seien. Im Baltikum herrscht eine besonders große Sensibilität in Bezug auf die Zwischenfälle, die Verletzung der territorialen Souveränität zu Luft und zu Wasser.
„Gefährliches Spiel mit hohem Risiko“
„Hier wird ein gefährliches Spiel mit dem äußersten Risiko gespielt“, sagte Ex-Verteidigungsminister und ELN-Mitglied Volker Rühe (CDU). „Alle Parteien, besonders Russland, sollten militärische Zurückhaltung üben.“
Die Nato hatte bereits Ende Oktober über mehrere Vorfälle mit russischen Militärflugzeugen berichtet. Binnen 24 Stunden hätten Nato-Flugzeuge vier Gruppen mit russischen Maschinen abgefangen. Eine derart hohe Zahl von Einsätzen habe es in den vergangenen Jahren nur selten gegeben, hieß es damals. Nach Angaben der Luftwaffe des Nato-Mitglieds Norwegen flogen russische Flugzeuge von Stützpunkten in der Arktis bis nach Portugal. Sie seien über internationalen Gewässern geblieben, den Grenzen der Mitgliedstaaten aber so nahe gekommen, dass Jets losgeschickt worden seien.
In der ostukrainischen Rebellenhochburg Donezk droht unterdessen die Lage völlig außer Kontrolle zu geraten: Am Wochenende fanden die heftigsten Kämpfe seit der Einigung auf eine Waffenruhe Anfang September statt. In der Nacht zum Sonntag lieferten sich offenbar Separatisten und ukrainische Soldaten Nonstop-Gefechte. Bewohner der Millionenstadt berichteten am Sonntag zudem von Kämpfen auf dem Flughafen. Dort ist es seit Mitte April immer wieder zu Schusswechseln gekommen.
Erneut Panzer aus Moskau
Ein ukrainischer Regierungssprecher warf Russland erneut vor, schweres Kriegsgerät in die umkämpfte Gegend zu transportieren. Moskau pflegt derlei Meldungen routinemäßig zu dementieren. Ein Augenzeuge sagte der Nachrichtenagentur AFP, er habe beobachtet, dass sieben motorgetriebene Kanonen in Richtung Flughafen sowie in eine Nachbarstadt von Donezk, den Eisenbahnknotenpunkt Jassinuwata, unterwegs gewesen seien.
OSZE-Beobachter zur Überwachung der Waffenruhe hatten zuvor nahe Donezk und Makijiwka Konvois mit Panzern, Truppentransportern und Haubitzen gesichtet. Der Schweizer Außenminister und amtierende OSZE-Präsident, Didier Burkhalter, zeigte sich „sehr besorgt“ über ein mögliches Wiederaufflackern der Gewalt in der Ostukraine. Er rief die Konfliktparteien auf, alles zu tun, um die vereinbarte Waffenruhe einzuhalten. (ag.)
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2014)